Erschreckende Beobachtungen

Rezensiert von Helga Hirsch · 12.01.2007
Der Wissenschaftler Norbert Conrads hat zehn Jahre gebraucht, um 4600 Seiten zu sichten, zu kürzen und mit Anmerkungen zu versehen, auf denen Willy Cohn zwischen 1933 und 1941 über den Alltag in Breslau und die Entwicklung der jüdischen Gemeinde berichtet hat. Herausgekommen sind beklemmende und erschreckende Beobachtungen.
Die letzte Tagebucheintragung datiert vom 17. November 1941. Vier Tage später wurden der Breslauer Studienrat und Historiker Willy Cohn, seine Ehefrau Trudi und seine zwei kleinen Töchter Tamara und Susanne in ihrer Wohnung verhaftet und - nach einem kurzen Aufenthalt in einem Sammellager - durch das besetzte Polen in das litauische Kaunas deportiert. Mit weiteren zweitausend Juden dürfte Familie Cohn dort am 29. November 1941 erschossen worden sein.

Norbert Conrads: "Cohn ist das erste echte Opfer des Holocaust in Breslau. Denn alle Opfer, die davor deportiert wurden, haben noch eine gewisse Zeit überlebt. Es ist der Übergang zur Endlösung."

Norbert Conrads, emeritierter Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit, hat zehn Jahre gebraucht, um viertausendsechshundert Seiten zu sichten, zu kürzen und mit Anmerkungen zu versehen, auf denen Willy Cohn zwischen 1933 und 1941 über den Alltag in Breslau, die Entwicklung der jüdischen Gemeinde, aber auch über sein eigenes Familienleben berichtet hat - meist beklemmende, erschreckende Beobachtungen, die bestätigen und ergänzen, was bisher nur aus den Tagebüchern des Dresdener Romanistikprofessors Victor Klemperer und des Breslauer Handelsvertreters Walter Tausk bekannt war.

Schon wenige Wochen nach Hitlers Machtantritt kommt Cohn zum dem Schluss: "Nirgends ist mehr Recht in Deutschland! Nirgends."

"6. Februar 1933
Eine furchtbare Nachricht, mein früherer Schüler Steinfeld ist gestern nach dem Reichsbannerumzug von S. A.-Leuten ermordet worden.

16. März 1933
Alle jüdischen Richter und Staatsanwälte in Breslau sind beurlaubt, auch die Getauften… Auch den Anwälten ist empfohlen worden, nicht ins Gericht und nicht einmal ins Büro zu gehen.

18. März 1933
Es wurden Schilder durch die Straßen getragen: Kauft nicht beim Juden!"

Am 31. August 1933 wird Willy Cohn als "politisch unzuverlässig" am Breslauer Johannes-Gymnasium entlassen. Er muss sich künftig mit Vorträgen, Schulungen und Artikeln durchschlagen. Anderen Juden, die ihre Existenzgrundlage verlieren, rät er, das Land zu verlassen. Auch für seine drei Kinder aus erster Ehe organisiert er die Ausreise: Louis geht nach Paris, Ernst in einen Kibbuz nach Palästina, Ruth über Dänemark, Moskau, Istanbul schließlich ebenfalls nach Palästina. Cohn selbst aber lehnt trotz häufiger Appelle von Ehefrau Trudi die Ausreise ab.

"27. September 1933
Ich liebe Deutschland so, dass diese Liebe auch durch alle Unannehmlichkeiten, die wir erleben, nicht erschüttert werden kann. … Man muss loyal genug sein, um sich auch einer Regierung zu fügen, die aus einem ganz anderen Lager kommt. Ich weiß mich da von jedem Hassgefühl frei."

Conrads: "Willy Cohn war ein Jude preußischer Herkunft und deutscher Herkunft. Er verehrte die deutsche Literatur, er war ein glühender Verehrer Goethes und Eichendorffs, er unterrichtete in der Schule Literatur und Geschichte. Willy Cohn ist in den Ersten Weltkrieg mit Begeisterung gezogen, hat dort an vorderster Front gekämpft, hat das Eiserne Kreuz erworben. Für ihn war es selbstverständlich, dass Deutschland seine Heimat war. Daher gibt es so viele erschütternde Aussagen von ihm, wie schwer es ihm fällt, dieses Deutschland zu verlassen."

Wenn, dann will er, der Zionist, nur nach Palästina ausreisen, aber in Palästina, wohin er im Jahre 1937 mit seiner Frau Trudi eine Erkundungsreise unternimmt, findet er keine ihm entsprechende Arbeit und Trudi lehnt das Leben im Kibbuz ab: Entgegen den Beschwörungen ihrer Söhne und Bekannten kehren sie nach Breslau zurück.

Danach tritt zwischen den Ehepartnern allerdings eine zunehmende Entfremdung ein. Cohn empfindet das Drängen seiner Frau auf Ausreise als oberflächlichen Pragmatismus. Er selbst will auf jeden Fall ausharren, auch wenn die zunehmend ausweglose Situation mehr und mehr an seiner Gesundheit zehrt, er immer häufiger unter Krampfzuständen, Schlaflosigkeit, Alpträumen und Herzbeschwerden leidet. Ein Neuanfang - so ist er der gerade einmal Fünfzigjährige überzeugt - , komme schon aus gesundheitlichen Gründen für ihn nicht mehr in Frage.

"25. Dezember 1939
Für mich gibt es keine andere Lösung mehr, als dass mich der liebe G’tt möglichst bald von allen Qualen des Erdendaseins erlöst, um allen diesen Differenzen zu entgehen … Ich werde nun immer einsamer werden, denn ich fühle ja, dass Trudi mir entgleitet."

Wie paralysiert verharrt Willy Cohn in Breslau, alle weiteren Versuche, wenigstens die Ehefrau und die beiden kleinen Töchter außer Landes zu bringen, versanden im Nichts. Sein Zionismus erweist sich als zu schwach, um ihn aus Deutschland herauszureißen, seine Treue zum Vaterland hingegen als zu stark, um ihn den Bruch mit Deutschland wagen zu lassen. Mag er ihn als Juden auch verfolgen, so sieht er im Nationalsozialismus doch auch einen legitimen Sachwalter deutscher Interessen.

Conrads: "Es gibt Äußerungen im Tagebuch, in denen er ein gewisses Verständnis für das Dritte Reich zeigt, sogar für Hitler, für manche seiner Reden, und Willy Cohn hat hier ein zwanghaftes Bedürfnis, all dem, was er sieht, immer noch Glaubwürdigkeit und ehrliches Bemühen zu unterstellen, dass er manchmal beinahe die Realität ausblendet. Und natürlich: Er ist ein deutscher Patriot. Dass das Dritte Reich die Tschechoslowakei zerschlägt, das die alten Zustände der Habsburger Monarchie wieder hergestellt werden - das erfüllt ihn als Deutschen mit Stolz. Oder jedenfalls mit Anerkennung, dass das, was er als Unrecht betrachtet hatte, revidiert wurde."

Cohn äußert Verständnis für die Besetzung des Rheinlands 1936 und billigt 1939 die Eingliederung der Provinz Posen ins Deutsche Reich. Alles, so Cohn, der ehemalige Sozialdemokrat, sei ein Problem des Raumes. Werde Deutschland mehr Lebensraum in Polen zugestanden, wäre Hitler zum Frieden mit Frankreich und England bereit.

"7. Oktober 1939
Die Führerrede gelesen, sie war maßvoll und verständig und könnte eine Brücke zum Frieden sein, wenn die anderen vernünftig wären. Aber es ist doch sehr fraglich, ob England nachgeben wird. … Die Größe des Mannes, der der Welt ein neues Gesicht gegeben hat, muss man anerkennen."

Mag Cohn auch davon erfahren, wie die Juden aus Stettin, Hamburg, Bremen und Baden ins besetzte Polen deportiert werden, wie sie im Konzentrationslager Sachsenhausen verhungern und später zu Tausenden in Lemberg erschossen werden: er gibt den hoffenden Blick auf Deutschland nie auf, obwohl sich die Familie dadurch weiter entzweit.

"4. Juni 1940
Meine inneren Sympathien sind nun einmal bei Deutschland, von dem ich glaube, dass es um seinen Lebensraum kämpft, und mein ältester Sohn, an dem ich hänge und von dem ich mir immer gewünscht hatte, dass er im geistigen Bereich mein Nachfolger werden würde, muss für die andere (französische) Seite kämpfen."

Wie durch ein Wunder haben Cohns Manuskripte den Krieg überdauert. Er hatte sie, bevor die Familie nach Kaunas deportiert wurde, zu Bekannten nach Berlin geschickt. Den Kindern fiel die Freigabe zur Veröffentlichung schwer: Dass ihr Vater, indem er sich die mörderische Politik der Nationalsozialisten schön redete, seinen eigenen Tod riskiert hat, ist eine Sache. Dass er dadurch auch seine dreizehn Jahre jüngere Frau Trudi und seine beiden Töchter Susanne und Tamara mit in den Tod gerissen hat, haben sie ihm bis heute nicht wirklich verziehen.


Willy Cohn:
Kein Recht, nirgends

Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933 – 1941
Hrsg. von Norbert Conrads
Böhlau Verlag Köln/Weimar/Wien 2006