Ernst Lothar: „Das Wunder des Überlebens“

Große Liebe Österreich

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Buchcover Ernst Lothar: „Das Wunder des Überlebens“
Das Wiener Kulturleben war Lothars Element: Er kannte alle und jeden persönlich, von Max Reinhardt bis zum Bundeskanzler. © Zsolnay Verlag / Deutschlandradio
Von Andrea Roedig · 23.04.2020
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Ernst Lothar war einer der wichtigsten Theatermacher im Wien der Zwischen- und Nachkriegszeit. Seine Lebenserinnerungen bieten einen faszinierenden Einblick in eine Epoche – und zeugen von der Zerrissenheit eines patriotischen Juden in der Diktatur.
Ernst Lothar war einer der großen Kulturschaffenden Österreichs ab den 1920er Jahren. In seinen wieder aufgelegten Erinnerungen beschreibt er das Theaterleben Wiens vor der Errichtung der Diktatur, Emigrationsjahre und die Rückkehr 1946 in ein Land, das er nie hätte verlassen wollen.

Wiener Kulturleben

"Wie kann man ohne das Land leben, für das man gelebt hat?", fragt ein junger Autor und Staatsanwaltsgehilfe im Jahr 1918 den Professor Sigmund Freud. Er hat die Praxis des berühmten Psychoanalytikers in Wien aufgesucht, nicht um über seine gerade verstorbene Mutter zu sprechen, sondern über die geografischen Folgen des Ersten Weltkriegs und das Ende des Habsburgerreichs.
Der junge Besucher bei Freud, Ernst Lothar, wird in der Folge einiges dafür tun, das massiv geschrumpfte Österreich als große Kulturnation zu entwerfen. Er wird zum Initiator der Salzburger Festspiele, schreibt Romane, glühende Theaterkritiken, inszeniert als Direktor des Theaters in der Josefstadt unzählige Stücke, mit Vorliebe Grillparzer, den er als den Shakespeare Österreichs sieht.
Das Wiener Kulturleben ist Lothars Element, was eben auch heißt: Er kennt alle und jeden persönlich, von Max Reinhardt bis zum Bundeskanzler.

Zerrissen zwischen den Loyalitäten

Mit dem Anschluss an Hitlerdeutschland 1938 ist all das vorbei; Ernst Lothar ist als Jude zur Flucht gezwungen. Es folgt ein Emigrationsschicksal, das getragen ist von einem beharrlichen Österreich-Patriotismus, der so weit geht, dass Lothar versucht, in New York mit geflohenen Ex-Burgschauspielern ein "Austrian Theatre" zu gründen.
Zwar gelingt es ihm und auch seiner Frau, der Schauspielerin Adrienne Gessner, in den USA schließlich eine neue Karriere aufzubauen, doch schon 1946 kehrt er als mittlerweile amerikanischer Staatsbürger nach Wien zurück. Sein Auftrag ist es, als "Theatre and Music Officer" des State Departments Entnazifizierungen durchzuführen und zugleich das Kulturleben in Österreich wieder aufzubauen.
Diese Rolle kann nicht gelingen. In den Augen den Amerikaner geht Lothar zu weichherzig vor, von seinen ehemaligen Weggefährten wird er als Racheengel wahrgenommen. Zerrissen zwischen den Loyalitäten, gibt Lothar schließlich die amerikanische Staatsbürgerschaft zurück. Er wollte einfach nur wieder zurück in seine Heimat.
"Das Wunder des Überlebens" ist ein Buch über Heimweh, Sprache und einen verstörenden Idealismus. Der Autor hat seine Erinnerungen erstmals 1960 als "Rechenschaftsbericht" veröffentlicht. Heute wieder neu aufgelegt, lassen sie sich auf vielschichtige Weise lesen: als eine Kulturgeschichte Wiens der Vor- und Nachkriegszeit, aber auch als ein ergreifend geschriebener Emigrations- und Rückkehrroman.
Gerade in seiner theatralen, überbordend blumigen Sprache wirkt der Protagonist wahrhaftig, lebendig und sympathisch. Gleichzeitig hat hier alles einen doppelten Boden durch die starrköpfig idealisierte Liebe Ernst Lothars zu Österreich. Jedem Daheimgebliebenen müsste man sie als Kitsch anrechnen, dem ins Exil gezwungenen Juden aber kann man sie als Sehnsucht zugestehen.
"Ich kehre nicht zu den Menschen zurück, sondern in eine Landschaft, ohne die ich nicht leben kann", sagte Ernst Lothar zu im Exil gebliebenen Freunden. Über den Antisemitismus in seiner Heimat auch nach 1945 machte er sich keine Illusionen.

Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen
Zsolnay-Verlag, Wien 2020
384 Seiten, 25 Euro

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