Erlöser auf dem Berggipfel

Von Ole Schulz · 12.10.2006
Fast jede Metropole in der Welt hat ein besonderes Wahrzeichen, das man sofort mit dieser Stadt verbindet. In Rio de Janeiro konkurrieren gleich zwei Symbole darum: einmal der Berg an Rios Bucht, der "Zuckerhut" genannt wird, und zum anderen die mächtige Christus-Statue auf dem Corcovado. Sie feiert ihren 75. Geburtstag.
Für die Jahreszeit ist es ungewöhnlich regnerisch, und der Berg Corcovado ist die meiste Zeit in dicke Wolken gehüllt. Dabei ist es ein besonderer Festtag für Rio de Janeiro: Auf dem Gipfel des 710 Meter hohen Corcovado wird am 12. Oktober 1931 die Christus-Statue eingeweiht. Noch am selben Abend kann man in der Zeitung "Diário da Noite" über die Festlichkeiten lesen:

"Die Stadt feiert und mit ihr ganz Brasilien: die Einweihung der Christus-Statue auf dem Gipfel des schönsten Berges der Hauptstadt der Republik - jenes herrliche Monument, welches die Nation dem Erlöser der Menschheit weiht. Christus, auf der Höhe des prächtigen Hügels, segnet die Stadt und segnet das Volk, das ihn anbetet."

Der Ort für die Statue des "Cristo Redentor”, Christus' des Erlösers, war gut gewählt: Vom Rücken des Corcovado aus hat man einen spektakulären Blick auf Rio de Janeiro und seine wunderbare Guanabara-Bucht. Der Name Corcovado bedeutet der "Bucklige", und die Erlöser-Statue auf seinem abgerundeten Gipfel wurde bald zum Wahrzeichen der Stadt. Der Samba-Komponist Tom Jobim widmete dem Berg und seiner die Arme ausbreitenden Christus-Figur sogar ein Lied:

""Viel Ruhe, um nachzudenken
Und viel Zeit haben, um zu träumen
Vom Fenster aus sieht man den Corcovado
Den Erlöser, oh, wie schön!""


Tatsächlich war es aber ein weiter Weg von der Idee bis zur Umsetzung: Da die Stadt kein Geld hatte, um das Projekt zu finanzieren, wurden Spenden gesammelt, und der Bau verzögerte sich um zehn Jahre. Erst durch eine Geldspritze der Erzdiözese von Rio und des Vatikans konnte die vom französischen Bildhauer Paul Landowski entworfene Statue zu Ende gebaut werden. Mit einer Höhe von 30 Metern und einem Gewicht von über 1000 Tonnen thront die mit einer Specksteinschicht überzogene Figur seitdem über der Stadt.

Den Höhepunkt der Einweihungszeremonie hatte man sich für die Abenddämmerung des 12. Oktober aufgehoben: Der italienische Erfinder Guglielmo Marconi wollte - mithilfe der Übertragung elektromagnetischer Wellen - von seiner Yacht im Golf von Neapel aus, über eine Zwischenstation in England bis nach Rio, den Strom für die Beleuchtung der Christus-Statue liefern. Die Zeitung "Diário da Noite":

"Um 19.16 Uhr richteten sich alle Augen im Saal aus dem Fenster Richtung Corcovado, wo ein leuchtender Blitz den Himmel zerteilte. Durch die schweren Wolkenmassen hindurch schien Licht durch die Dunkelheit. Drei Minuten später brachen die Wolken auf, und die weiße Christusfigur, mit ihren gewaltigen Händen, die Vergebung und Zärtlichkeit gebieten, leuchtete auf dem Berggipfel auf."

Nur wenige Minuten später erhält der italienische Botschafter in Brasilien eine Nachricht Guglielmo Marconis:

"Ich bin äußerst zufrieden ob der Tatsache, dass elektromagnetische Wellen, die von mir durch die Atmosphäre geschickt wurden, jene gigantische Statue Christus´ des Erlösers erleuchtet haben, die von den Brasilianern als Symbol für ihren Glauben errichtet wurde. (…) Es ist eine große Freude für mich, an dieser Verbindung zwischen Brasilien und Italien mitgewirkt zu haben, die diesen beiden großen romanischen Brüderländern eine Zusammenarbeit im Sinne des Fortschritts und zum Besten der Zivilisation in der Welt erlaubt."

Kardinal Sebastiao Leme hatte ähnlich hochtrabende Erwartungen: In seiner Einweihungsrede richtete er an die gewaltige Betonfigur den Bittspruch, sie möge das Land leiten und von allen Übeln befreien. Der fromme Wunsch des Kardinals hat sich allerdings bis heute nicht erfüllt: So gehört Rio de Janeiro weiterhin zu den Städten mit einer der höchsten Mordraten der Welt.

Davon lassen sich die "Cariocas" genannten Bewohner Rios in ihrer entspannten Einstellung zum Leben freilich kaum beirren. Erst, wenn die Christus-Figur ihre Hände zum Gebet zusammenfalte - so heißt es in Rio de Janeiro auch - erst dann sei die Zeit gekommen, um sich ernsthaft dem Broterwerb zu widmen.