Erkundungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes

Rezensiert von Ulrike Ackermann · 03.03.2006
Dahrendorfs Buch "Versuchungen der Unfreiheit" beginnt zwar mit dem "Kampf der Kulturen", es reicht aber weit über den aktuellen Stand des Konflikts hinaus: Es ist eine Erkundungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes, lebendig und anregend, zuweilen mit sanfter Ironie erzählt.
"Der Islam ist eine Religion, für die die Vorstellung der durch keine Ordnungsinstanz zusammengehaltenen, pluralistischen, in allen Mitgliedschaften auf Freiwilligkeit beruhenden, ganz und gar unsakralen Bürgergesellschaft zutiefst fremd ist", "

schreibt der Soziologe Ralf Dahrendorf in seinem gerade erschienenen großartigen Buch über die "Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung". Dem Islam sei es im Gegensatz zum Marxismus gelungen, in der modernen Welt eine Gesellschaft zu schaffen, die die Bindungskraft, die das Wort umma beschreibt, nicht verloren hat. Nicht das Individuum zählt, sondern die Glaubensgemeinschaft. Die luzide Einlassung dieses großen liberalen Intellektuellen kommt zur rechten Zeit. Nichts Geringeres als einen "Tugendkatalog der Freiheit" entfaltet Dahrendorf in seiner Studie, und pocht damit auf jahrhundertelang hart erkämpfte Errungenschaften der westlichen säkularen Bürgergesellschaft, die plötzlich zur Disposition stehen. Infrage gestellt werden sie nicht nur von wütenden Muslimen auf der ganzen Welt, sondern auch von westlichen Journalisten, Intellektuellen, Regierungsvertretern und Gutmenschen, die vor diesem Gewaltrausch zurückweichen und zum Appeasement aufrufen. Gerade sie warnen in selbstzensorischer Manier vor den "abendländischen Freiheitskämpfern", die angeblich das "Feindbild des Islam als Terrorreligion" und die Islamophobie schüren würden - eine aberwitzige Umkehrung von Ursache und Wirkung.

Doch Dahrendorfs Buch reicht über den aktuellen Streit weit hinaus. Es ist eine Erkundungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes, lebendig und anregend, zuweilen mit sanfter Ironie erzählt. Er wählte Biographien öffentlicher Intellektueller, die zwischen 1900 und 1910 geboren wurden, Angehörige einer Generation, die von ähnlichen Erfahrungen geprägt worden sind. Mit ihnen und ihren Gedanken durchläuft der Autor das letzte Jahrhundert und ergründet, warum gerade sie sich nicht vom rechten oder linken Totalitarismus haben verführen lassen.

""Faschismus und Kommunismus waren Versuchungen der Unfreiheit. Die Kombination von fragloser Bindung, absoluter Führung oder paradiesischer Hoffnung, und quasi-religiöser Verklärung ist ein Rezept für die Ersetzung offener Gesellschaften durch totale Staaten. Die Versuchungen der Unfreiheit sprechen die Schwäche von Intellektuellen an, die die Freiheit nicht ertragen können. Das sind viele. Die sie andererseits ertragen, widerstehen auch diesen Versuchungen. Dabei ist der Glaube an die Freiheit - die eine, unteilbare und beiwortlose Freiheit - ihr Leitstern", "

so Dahrendorf. Der 1469 geborene Erasmus von Rotterdam, Kirchenkritiker und polemischer Einzelkämpfer, der quer durch Europa wanderte, ist für ihn der früheste Vertreter des modernen, liberalen und unabhängigen Geistes. Um diese Lichtgestalt der Aufklärung versammelt er die so genannten "Erasmier":

""Sie sind Männer und Frauen, die die Tugenden der Freiheit mit Erasmus teilen. Sie sind öffentliche Intellektuelle, die in ihrer Zeit den Versuchungen der Unfreiheit widerstanden. Sie sind damit Repräsentanten dessen, was man den liberalen Geist nennen kann."

In der ersten Reihe der Erasmier finden wir den streitlustigen französischen Soziologen Raymond Aron, den damals in London lehrenden Philosophen Karl Popper und den Sozialphilosophen Isaiah Berlin - allesamt väterliche Freunde und intellektuelle Wegbegleiter Dahrendorfs. Doch auch der linksliberale Italiener Noberto Bobbio, der tschechische Philosoph Jan Patocka, Hannah Arendt und Theodor W. Adorno sowie die Renegaten Manès Sperber und Arthur Koestler sind mit von der Partie.

Entlang der durchaus recht unterschiedlichen Biographien und Charaktere seiner intellektuellen Protagonisten, die gezeichnet sind von der Erfahrung beider Diktaturen, entwickelt er eine Tugendlehre der Freiheit, also "allgemeine Werte plus individuelle Mühe". Platons Kardinaltugenden Mut, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit eignen sich gut für die Beschreibung der Haltung dieser liberalen Geister. Ihre geistige Stärke und innere Kraft befähigte sie, den totalitären Verführungen zu widerstehen. Sie hatten den "Mut des Einzelkämpfers um Wahrheit" und vertraten ihre Meinung in fremder, oft feindseliger Umgebung, dem Zeitgeist entgegengesetzt, einsam und unabhängig, ohne den Rückhalt einer Gemeinschaft oder Partei. In ihrer Suche nach Wahrheit war ihnen bewusst, dass sie die Wahrheit nicht finden würden und so revidierten sie, wenn nötig, ihre vormals eingenommene Position. Ausgehend vom Pluralismus der Werte war ihnen klar, dass es keine Gesellschaft ohne Konflikte und Widersprüche geben werde. Als "engagierte Beobachter", ausgestattet mit der "Weisheit der leidenschaftlichen Vernunft", begleiteten sie die politischen Tumulte und Katastrophen des letzten Jahrhunderts. Doch darin spiegelte sich auch das alte Dilemma von vita activa und vita contemplativa wider:

""Alle Erasmier, von denen die Rede ist, waren zuweilen vom Handeln versucht. Sie traten vorübergehend in Parteien ein, sie berieten Minister, sie unterschrieben Aufrufe, ja sie gingen nach Spanien in den Bürgerkrieg, ohne dass sie genau wussten, ob sie denn nun schreiben oder kämpfen wollten. Dann aber schrieben sie. Besonnenheit im Sinne des engagierten Beobachters ist keine Dauertätigkeit. Es ist vielmehr immer Leben auf der Drehscheibe, die mal die Reise in Richtung auf Handeln und mal in Richtung auf Reflektieren stellt. Es ist ein Leben zwischen den Eindeutigkeiten, ein unbequemes Leben also, das dennoch ertragen werden will","

schreibt Dahrendorf. Deshalb sind Erasmier weder Helden noch Heilige. Sie eigenen sich kaum, im Zentrum des Widerstands gegen die Diktatur zu stehen, denn sie haben nicht das Zeug zum Märtyrer. Doch in bestimmten historischen Situationen, wenn totalitäre Regimes zu bröckeln beginnen, gehen Widerständler und Erasmier Hand in Hand:

""Das Neue, das an die Stelle der Tyrannis tritt, braucht die Leidenschaft der Kämpfer ebenso wie die Vernunft der engagierten Beobachter. Doch löst auch diese Allianz nicht den tiefen Konflikt zwischen Menschen der Tat und Menschen des Wortes","

räumt Dahrendorf ein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es den ehrenvollen und über einige Jahre erfolgreichen Versuch europäischer und amerikanischer Intellektueller, sich selbst zu organisieren. Ausgehend von ihren am eigenen Leibe gemachten Erfahrungen mit beiden Totalitarismen versammelten sie sich unter dem Dach des 1950 gegründeten "Kongresses für kulturelle Freiheit". Dahrendorfs Protagonisten waren fast alle an diesem Unternehmen beteiligt. Doch der Kongress löste sich irgendwann selbst auf.

""Man kann verstehen, dass es Zeiten gibt, in denen öffentliche Intellektuelle eine Organisation von ihresgleichen suchen. Doch sollte niemand überrascht sein, dass diese, wenn es sie denn gibt, von den Schwächen aller Organisationen keineswegs frei ist. Liberale Geister können in ihnen nicht gedeihen. Sie müssen den Mut und die Kraft haben, ihre Position allein zu vertreten","

betont Dahrendorf - und steht selbst dafür. In seinem Buch wird denn auch jener liberale Geist lebendig, der nötig ist, um die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Arthur Koestler schloss seine Eröffnungsrede des "Kongresses für kulturelle Freiheit" damals in Berlin mit den Worten: "Freiheit in die Offensive!" - Kein schlechtes Motto in unseren Zeiten.


Ralf Dahrendorf: "Versuchungen der Unfreiheit"
C. H. Beck Verlag, München 2006
Ralf Dahrendorf: "Versuchungen der Unfreiheit"
Ralf Dahrendorf: "Versuchungen der Unfreiheit"© C. H. Beck Verlag