Erinnerungsstücke einer Verstorbenen

Rezensiert von Andreas Schäfer · 03.11.2005
In "Das Museum der Stille" kommt ein junger Mann in ein abgelegenes Dorf, um im Auftrag einer seltsamen Alten ein Museum einzurichten, das Erinnerungsstücke Verstorbener ausstellt. Diese Erinnerungsstücke sind nun keine simplen Souvenirs, sondern enthalten reliquienartig das gesamte Leben des Verstorbenen. Das Museum ist ein stiller Ort, an dem sich Leben und Tod durchdringen.
In den meisten Büchern der 1962 geborenen Japanerin Yoko Ogawa gehen Schönheit und Gewalt Hand in Hand. In dem Roman "Hotel Iris" zum Beispiel ist das junge Mädchen Mari von der Würde und Eleganz eines älteren Herren beeindruckt, der sich - als sie ihm auf eine einsame Insel folgt - als grausamer Sadist entpuppt. In der Novelle "Ringfinger" steht ein Mann im Mittelpunkt, der die fast wunderbare Fähigkeit besitzt, von guten und schlechten Erinnerungen seiner Kunden Präparate herzustellen - nebenbei kommt auf gewaltsame Weise eine Assistentin nach der nächsten zu Tode.

Die Logik, von der die Geschichten der Autorin beherrscht werden, ist so simpel wie auf erschreckende Weise verführerisch. Die wahre Schönheit ist immateriell. Sie benötigt die Dinge, um an ihnen aufzuscheinen und sichtbar zu werden. Gleichzeitig strebt die Sehnsucht der Figuren aber danach, durch die Dinge hindurch zum Wesen der Schönheit vorzudringen. Die Zerstörung von Dingen (und Figuren!) ist also nur die logische Konsequenz. Es weht der Geist einer Zen-haften Selbstauslöschung durch Ogawas Geschichten, die in einem scheinbar naiven, fast kindlichen Ton erzählt werden, was ihren unheimlichen Sog nur verstärkt.

Auch in Ogawas neustem, auf deutsch erschienen Roman "Das Museum der Stille" steht - wie im "Ringfinger" - ein Präparator im Mittelpunkt. Ein junger Mann kommt in ein abgelegenes Dorf, um im Auftrag einer seltsamen Alten ein Museum einzurichten, das Erinnerungsstücke Verstorbener ausstellt. Diese Erinnerungsstücke sind nun keine simplen Souvenirs, sondern enthalten reliquienartig das gesamte Leben des Verstorbenen, quasi seine Essenz. Das Museum soll also ein stiller, aber auratisch hoch aufgeladener Ort sein, an dem - wie zum Beispiel in den Installationen des Künstlers Christian Boltanski - Leben und Tod sich durchdringen. Zu den Vorgaben der Alten gehört, dass die Stücke den gerade Verstorbenen entwendet werden müssen.
Der junge Ich-Erzähler archiviert und dokumentiert also nicht nur, sondern wird auch zum Dieb. Jedes Mal, wenn jemand im Dorf stirbt, bricht er in dessen Wohnung ein, um das "Ding der Dinge" zu finden: das Diaphragma einer Prostituierten, das Skalpell eines Chirurgen oder die Brustwarzen einer "ermordeten Stricklehrerin". Denn natürlich geschehen früher oder später Morde, und natürlich gerät der Ich-Erzähler unter Verdacht.

Den Roman einen philosophischen Krimi zu nennen, wäre aber eine grobe Vereinfachung. Ogawa geht es darum, den Zustand einer tiefen Stille, in dem "alles im Einklang" steht, beim Leser herzustellen und das läuft natürlich über die Hauptfigur. Der Erzähler selbst muss still werden. Er soll - und hier zeigt sich, dass Ogawa aus einem buddhistischen Land kommt - sein Ich verlieren, den Wunsch, das Dorf zu verlassen. Der Erzähler wird Teil des Museums, ein Ding, ein mediales Gefäß, durch das sich im ergreifenden Endkapitel die Geschichte der schließlich auch noch sterbenden Alten selbst erzählt. Für diese Verwandlung müssen allerdings noch einige Widerstände im Ich des Erzählers gebrochen werden. Wie die Autorin es vermag, ihre Hauptfigur leichthändig und subtil durch gar nicht subtile Zustände der Angst, der Verrücktheit und der körperlichen Bedrohung in die einfache wie geheimnisvolle Schlussgelöstheit zu überführen, ist schlicht famos.

Yoko Ogawa. "Das Museum der Stille". Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2005. 350 Seiten, 22 Euro.