Erinnerungskultur in einer Sackgasse

Rezensiert von Helga Hirsch · 30.01.2011
In regelmäßig wiederkehrenden Wellen führt Deutschland Debatten über seine Erinnerungskultur. Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust stehen unverändert im Zentrum des öffentlichen Gedenkens.
Das Schweigen über diese Verbrechen und Massenmorde vor etwa fünf Jahrzehnten gebrochen zu haben, ist auch nach Meinung der Historikerin Ulrike Jureit und des Soziologen und Psychoanalytikers Christian Schröder ein herausragender Verdienst der sogenannten 68er-Generation. Inzwischen aber - so die Autoren - ist diese Erinnerungskultur in einer Sackgasse gelandet. Denn die zweite Generation der Deutschen hat sich nicht nur mit den Opfern der Deutschen identifiziert, sie hat die eigene Existenz auch mit dem fremden Opfer-Status verwoben. Dazu Ulrike Jureit:

"Die Täter-Opfer-Formel war in den 60er- und 70er-Jahren nicht nur vergangenheitsbezogen, vielmehr phantasierte sich die nachwachsende Generation als Opfer eines nun vermeintlich bundesdeutschen faschistischen Systems, in dem jetzt sie die Verfolgten waren, in dem sie sich nun als Juden empfanden."

Wer als Deutscher in die Rolle des "gefühlten Opfers" schlüpft, - so Jureit - stiehlt sich aus der Familientradition heraus und umgeht die Auseinandersetzung mit den Taten und Tätern in der Elterngeneration. Er steht am Holocaust-Mahnmal nicht als Sohn eines möglicherweise schuldigen Vaters, sondern dank der geliehenen Identität als Unschuldiger auf der Seite der Guten.

Diese Form des Erinnerns funktioniert nach Jureit wie eine säkulare Religion: Die Singularität des Holocaust ist als zentraler Glaubensinhalt festgelegt. Wer diese Norm nicht befolgt, muss mit öffentlicher Ächtung rechnen, wer sich ihr unterwirft, darf Erlösung von der eigenen oder überlieferten Schuld erhoffen. Eine Illusion allerdings - sagt Jureit - denn:

"Der in Aussicht gestellte Zustand moralischer Entlastung will sich auch nach Jahrzehnten intensiven Bemühens, Bereuens und Gedenkens partout nicht einstellen, und daher befinden wir uns mittlerweile in einer Art rasendem Stillstand, der nicht vergehen kann."

Christian Schneider sieht aus psychoanalytischer Perspektive als einzigen Ausweg eine erneute Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus - dieses Mal aber nicht als einer Projektionsfläche, sondern als historischer Realität. Nur so kann seiner Meinung nach die Trennung des eigenen Schicksals von der Leidensgeschichte der ‘Anderen’ herbeigeführt werden. Und er plädiert für eine Art von Trauer, die den Schrecken über das Unbegreifliche nicht mehr abwehrt, sondern es endlich als geschehen akzeptiert.

"Diese Trauer ist, als Arbeit, dem illusionären Wunsch nach einem Ungeschehenmachen ebenso entgegen gesetzt wie der falschen Erwartung, Erlösung sei durch moralisch getöntes Erinnern zu erreichen. Der ihr korrespondierende emotionale Ausdruck wäre Schmerz."

Dieser Weg der Ablösung von einer geliehenen Identität erscheint sinnvoll und nachvollziehbar. Nicht zu überzeugen vermag jedoch, wenn der Erinnerungskultur pauschal ein Verharren in der Rolle des "gefühlten jüdischen Opfers" unterstellt wird. Die 68er-Generation war beispielsweise nicht mit den verfolgten Juden identifiziert, sondern mit den aufbegehrenden Freiheitskämpfern in der Dritten Welt.

Bei vielen Angehörigen der zweiten Generation entwickelte sich zudem ein Wunsch nach Wiedergutmachung – was impliziert, dass sie sich nicht auf der Seite der Opfer, sondern in der Tradition der Schuldigen sehen. Über die Schuld ganz konkreter Eltern und Großeltern lesen wir inzwischen auch in den Biografien etwa von Wiebke Bruns, Alexandra Senfft oder Ute Scheub.

So weit tatsächlich am Opferdiskurs festgehalten wurde, durchbrach er in den letzten Jahren zunehmend den Rahmen von Nationalsozialismus und Holocaust. Bei den Opfern von Vertreibung und Bombenangriffen oder den Opfern stalinistischer Willkür fand überhaupt keine Identifizierung mit "fremden" Opfern mehr statt, hier waren die Deutschen selbst die Opfer.

Indem sie all diese Entwicklungen vollständig außer acht lassen, wirken die Autoren, die als Bilderstürmer angetreten sind, plötzlich selbst als Teil der "ewig Gestrigen": Sie bleiben - und sei es negativ - auf eine Sichtweise fixiert, die immer mehr Vergangenheit wird.


Ulrike Jureit/Christian Schröder: Gefühlte Opfer
Klett-Cotta, Stuttgart 2010
Cover: "Ulrike Jureit/Christian Schröder: Gefühlte Opfer"
Cover: "Ulrike Jureit/Christian Schröder: Gefühlte Opfer"© Klett-Cotta