Erinnerungskultur

Das gelebte Ritual

04:26 Minuten
Vor der Gedenkstätte Seelower Höhen in Seelow im Oderbruchliegen Blumenkränze.
Gedenkstätte Seelower Höhen im Oderbruch: Es gibt Wege, die volle Wucht der Wahrheit des Zweiten Weltkriegs zu ertragen, meint Gesine Palmer. © imago images / Jürgen Ritter
Überlegungen von Gesine Palmer · 07.05.2020
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Wie können zukünftige Generationen an Millionen Opfer des Krieges erinnern, der vor 75 Jahren endete? Gedenken, das die Herzen der Menschen nicht erreicht, drohe zu erstarren, meint die Publizistin Gesine Palmer. Sie plädiert für "gelebte Rituale".
Vor 75 Jahren, im ersten Viertel des Jahres 1945, war endlich absehbar, dass die mörderischen deutschen Truppen ihren verbrecherischen Krieg verlieren würden. Es wurde noch gemordet, gebombt, gejagt, es wurden noch aufgespürte Jüdinnen und Juden getötet und Deserteure standrechtlich erschossen.
Aber die Rote Armee hatte schon Auschwitz befreit, und immer mehr Deutsche waren auf der Flucht Richtung Westen.

Bleischwere Last für die Nachgeborenen

Menschen, die damals jung genug waren, um noch heute zu leben, finden oft keine Sprache, um über das damals Erlebte zu reflektieren. Entsprechend bleischwer fühlte sich für die Nachgeborenen das Leben mit ihnen an – und zwar, wie längst bekannt ist, sowohl für die Kinder der Opfer, als auch für die Kinder der Täter*innen und Mittäter*innen.
Hier in Deutschland lösen Fragen an Menschen, die dabei waren, oft noch heute schwerste Verkrampfungen aus – und etwas von diesem Krampf hält sich trotz aller Mühen um historische, soziologische, psychologische, theologische und pädagogische Aufarbeitung der Geschichte auch in den Gedenkveranstaltungen zu den Verbrechen der Nazizeit.

Vorhersehbare Reden und Kommentare

Es ist insofern nachvollziehbar, dass die oft mehr oder weniger vorhersehbaren Reden und Kommentare sich der Kritik stellen müssen, sie seien "Lippenbekenntnisse" oder bloße Rituale – die nicht wirklich die Herzen der Menschen erreichten.
Aber was wäre eigentlich ein "bloßes Ritual"?
Rituale sind einerseits regelmäßig wiederholte Handlungen der Einzelnen. Ein Leben ohne solche Rituale ist Menschen kaum möglich und kommt faktisch auch nicht vor – denn unsere Natur ist so offen, dass wir gut daran tun, uns durch bewusst gesetzte Gewohnheiten ein paar "Leitplanken" zu geben.
Die psychologische Forschung geht mittlerweile davon aus, dass ein Mensch ungefähr sechs Wochen braucht, um eine neue, beispielsweise gesündere Gewohnheit an die Stelle einer alten, weniger guten zu setzen: Wenn er dies wirklich will. Nach sechs Wochen ist ihm selbstverständlich, worum er sich bis dahin willentlich bemühen musste.

Herausgehobene öffentliche Handlungen

Rituale sind andererseits herausgehobene öffentliche Handlungen, mit denen ein Zustand vorübergehender Fassungslosigkeit, ein Übergang von einer Lebensweise in eine andere, begleitet und manifestiert wird. Übergangsrituale nennt man sie.
In der christlichen Welt sind die Wichtigsten: Aufnahme eines Kindes in die Gemeinde durch die Taufe, Anerkennung der Religionsmündigkeit durch Kommunion oder Konfirmation, Feier einer Eheschließung, und am Lebensende die Beerdigung.
Wo kein Ritual den fragilen Zuständen des Übergangs eine Fassung gibt – gerade da droht die größte Gefahr der Auflösung einerseits, der Überkompensation und der Flucht unter starre, autoritäre Ordnungen andererseits. Die Gedenkrituale haben gerade als Rituale eine Funktion.

Sich den Tendenzen der Gegenwart stellen

Das, was sich in der NS-Zeit hier ereignet hat, ist unfassbar. Wer sich dem Eindruck ständig ungeschützt aussetzen wollte und müsste, wäre völlig von der Vergangenheit absorbiert und mit ihr beschäftigt. Er könnte sich gerade nicht den gefährlichen Tendenzen der Gegenwart wirksam und pragmatisch entgegenstellen.
Wer hingegen regelmäßig an den Gedenktagen Veranstaltungen besucht oder mitgestaltet, wer an den vielfältigen Ritualen der Erinnerung teilnimmt – gerade der kann sich immer wieder stark genug fühlen, für einen Moment die volle Wucht der Wahrheit zu ertragen. Gemeinsam mit anderen.
Mag ihn eine gewisse Verkrampfung dahin treiben – wenn die Rituale gut gemacht sind, wenn sie den Zweck, dem sie dienen, nicht überwuchern, sondern ihm Raum schaffen: Dann können sie auch helfen, die Verkrampfung zu überwinden, das Schweigen zu brechen und den richtigen Lippenbekenntnissen die richtigen Taten folgen zu lassen.

Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Ihre wiederkehrenden Themen sind Religion, Psychologie und Ethik – im Kleinen der menschlichen Beziehungen wie im Großen der Politik.

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