Erinnerungen von Weggefährten

04.06.2011
Der begleitende Katalog zum deutschen Pavillon der Biennale 2011 soll Christoph Schlingensiefs Arbeiten einem breiten Publikum zugänglich machen. Er versammelt mehr als 30 Aufsätze von Kollegen und Freunden des verstorbenen Regisseurs.
Als Susanne Gaensheimer Christoph Schlingensief als Künstler für den deutschen Pavillon der diesjährigen Biennale von Venedig einlud, wusste sie von dessen Krebserkrankung. Doch mit seinem Tod hatte sie nicht gerechnet. Ihre Wahl sei auf Christoph Schlingensief gefallen, so schreibt sie im Vorwort dieses Katalogs, weil sie, von seiner herausragenden künstlerischen Bedeutung überzeugt, der Auffassung gewesen sei, dass "er für diesen Ort zu diesem Zeitpunkt der richtige Künstler" sei. Als Christoph Schlingensief im August 2010 plötzlich verstarb, habe sie gemeinsam mit den engsten Vertrauten des Künstlers entschieden, mit einer Werkschau dessen Arbeit einem großen Publikum noch bekannter zu machen.

Dieses Anliegen verfolgt auch der begleitende Katalog, der nach einem Abbildungsteil über 30 Aufsätze (und zwei Interviews mit Christoph Schlingensief) versammelt – von Kollegen, Freunden und Weggefährten vor allem aus der Theater-, Film- und Kunstwelt. Es schreiben die Regisseure Frank Castorf und Schorsch Kamerun, die Schauspielerin Irm Hermann, der Kurator Hans-Ulrich Obrist, der Kunstwissenschaftler Boris Groys, die Schriftstellerin Elfriede Jelinek, die Filmemacher Alexander Kluge und Werner Nekes und der Politiker Frank-Walter Steinmeier.

Das Spektrum der Aufsätze reicht von sehr persönlichen Annäherungen und Erzählungen bis hin zu kunstwissenschaftlichen Einordnungen von Schlingensiefs Werk. Nach und nach entsteht so das Bild eines Menschen, der sich existenziellen Fragen nach Leben und Tod gestellt hat und gesellschaftliche Prozesse mit künstlerischen Mitteln offen legte, ja, sie vorantrieb. Schlingensiefs große Leidenschaft, sein Talent, Menschen miteinander zu verbinden, seine Unermüdlichkeit sowie seine grenzenlose Hingabe treten dabei in fast allen Texten zutage.

Etwa wenn Elfriede Jelinek ihn als einen Menschen beschreibt, "durch den alles hindurchgerissen wurde", "dem alles willkommen war, ... (um) etwas daraus zu machen und es mit seinen Freunden, Mitarbeitern, Mitarbeiterinnen, dann wieder zu uns hinüberzulenken". Oder wenn Irm Hermann erzählt, wie dieser "große Verführer", auch ein "Berserker und Magier", sie zu "Selbstentäußerungen trieb, wie ich es seit meiner Zeit mit Rainer Werner Fassbinder nicht mehr erlebt hatte".

Da Autoren aus allen Schaffensphasen und -bereichen Christoph Schlingensiefs zu Wort kommen, passieren in diesen meist berührenden Zeugnissen auch sämtliche seiner wichtigen Werke Revue. Von den Filmen "Das deutsche Kettensägenmassaker" (1990) und "Bambiland" (2003), die Bayreuther "Parsifal"-Inszenierung (2004) bis hin zum Fluxus-Oratorium "Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" (2008). Und nicht zuletzt sein Engagement für ein afrikanisches Operndorf.

Irm Herrman schreibt, dass ihr während der Arbeit mit Christoph Schlingensief manchmal gar nicht bewusst gewesen sei, wie groß er gewesen sei, "ein Riese" eigentlich. Selbst wer nur den Katalog gelesen hat, bekommt genau diesen Eindruck.

Besprochen von Eva Hepper

Susanne Gaensheimer, Christoph Schlingensief: Deutscher Pavillon. 54. Biennale Venedig 2011
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
272 Seiten, 29,99 Euro
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