"Erinnerungen verändern sich"

Norbert Frei im Gespräch mit Britta Bürger · 12.10.2011
Als "holzschnittartig" bezeichnet der Historiker Norbert Frei die Vorstellung, "Erinnerungen gegen Geschichte zu stellen". Zwar begrüße er jedes Projekt, das das historische Bewusstsein fördere, im "Gedächtnis der Nation" werde Geschichte aber geformt und nicht abgefragt oder koserviert.
Britta Bürger: Im seit wenigen Tagen durch Deutschland tourenden Jahrhundertbus ist ein kleines Studio eingebaut, in dem jeder Interessierte eine halbe Stunde lang seine persönlichen Erinnerungen an bestimmte Situationen des vergangenen Jahrhunderts erzählen kann – Zeitzeugeninterviews vor laufender Videokamera. Von einer Redaktion bearbeitet werden dann Ausschnitte dieser Interviews online gestellt, zum Anklicken auf der Seite gedaechtnis-der-nation.de. Auch mein Kollege Gerd Brendel wollte mit seinen Erinnerungen in die Geschichte eingehen.

Gerd Brendels Versuch, einen Beitrag zum Gedächtnis der Nation zu liefern, dem neuen Geschichtsprojekt des ZDF-Journalisten Guido Knopp. Gestern hat er es hier im "Radiofeuilleton" vorgestellt, die neue Online-Datenbank, auf der tausende Zeitzeugen ihre persönlichen Erinnerungen an das letzte Jahrhundert erzählen können, auf dass daraus das Gedächtnis der Nation entstehe. Viele Historiker haben das Projekt erst mal gelobt, zum Beispiel dafür, dass die Historikerzunft endlich anfängt, die Tragweite des Internets zu erkennen. Wir fragen heute Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, was er von dem Projekt hält. Ich grüße Sie, Herr Frei!

Norbert Frei: Guten Tag, Frau Bürger!

Bürger: Ein Internetportal bewahrt das Gedächtnis der Nation, eine Fundgrube persönlicher Erinnerungen ergänzt die Geschichtsbücher – das klingt doch gerade mit Blick auf die junge internetaffine Generation erst mal ganz innovativ. Ist es das?

Frei: Ja, ich würde in jedem Fall erst mal sagen: Wir als Historiker müssen uns über jedes Projekt freuen, das am Ende dazu dienen kann, historisches Bewusstsein zu fördern. Die Frage ist, ob es dieses Projekt in der Form, in der es konzipiert ist, wirklich tun kann, denn es kann ja nicht nur darum gehen, gewissermaßen Rohmaterial für künftige Fernsehdokumentationen zusammenzu…, ich würde sagen, zusammenzuklauben, sondern es muss eigentlich – gerade auch mit diesem Titel und mit diesem Anspruch, der dahinter formuliert ist – um etwas mehr noch gehen.

Bürger: Guido Knopp hat die subjektive Form der Erinnerung gestern hier bei uns im Programm verteidigt, er hat dazu Folgendes gesagt, hören wir uns das mal an:

Guido Knopp: Die Geschichte, die man darstellt, ist kalt, analytisch und sie seziert den wirklichen Ablauf. Die Erinnerung der Zeitzeugen ist subjektiv, ist warm sowohl in den traurigen als auch in den schönen Momenten der Erinnerung. Beides zusammen – das ist wie Yin und Yang – gibt das ganze und das wahre Bild. Man muss diese subjektiven Erinnerungen natürlich zum einen sehr sorgfältig auswählen, fehlerhafte, falsche Erinnerungen finden nicht statt.

Aber das, was stattfindet, das, was ja auch geprüft worden ist von unseren Autoren und unserem wissenschaftlichen Beirat, den es ja gibt, das gibt in der Summe vor allem auch doch ein sehr dichtes, ein subjektives, aber ein sehr menschliches Bild des Erlebens im 20. Jahrhundert, was die Geschichte mit den Menschen machte und wie der Mensch die Geschichte auch zum Teil beeinflusst hat.

Bürger: Das sagt Guido Knopp. Wie sehen Sie das, Herr Frei? Kann diese warme und vielleicht auch wärmende subjektive Ebene uns die Geschichte tatsächlich näherbringen?

Frei: Nun, es ist ja nicht so, dass Historiker nicht längst mit Erinnerungen, mit privaten Zeugnissen arbeiten, das tun wir im Übrigen auch mit schriftlichen persönlichen Erinnerungen, mit Briefen, mit Tagebuchaufzeichnungen und so weiter und so fort. Darüber hinaus ist das Instrumentarium der Oral History, wie es heißt, natürlich gerade in Deutschland mit entwickelt worden, und seit drei Jahrzehnten mindestens in vielerlei zum Teil sehr interessanten Projekten auch angewendet worden.

Die Vorstellung ist trotzdem etwas holzschnittartig, gewissermaßen Erinnerungen gegen Geschichte zu stellen und dann zu sagen, das eine kann das andere ergänzen in so einem Sinne, dass man hier wie in einem Baukasten einzelne einem als Historiker passende Teile der Erinnerung einmontiert.

Im Übrigen: Auch der Hinweis, falsche Erinnerungen werden aussortiert, ist natürlich hochinteressant. Ein Historiker müsste eigentlich sagen: Es gibt – wenn jemand nicht gerade wider besseren Wissens etwas Falsches behauptet – keine falsche Erinnerung, denn Erinnerung, gerade weil sie subjektiv ist, kann einen unter Umständen auch ganz verzerrten, aber deswegen trotzdem natürlich interessanten, auch wissenschaftlich interessanten Blickwinkel auf ein bestimmtes Ereignis haben.

Bürger: Aber es bedarf dann der Einordnung.

Frei: Es bedarf der Einordnung und vor allem: Geschichte und Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein geht nicht im Abruf von Erinnerungen auf. Das ist ein wirklich zentraler Einwand, den man hier immer wieder in Erinnerung rufen muss. Das heißt nicht, dass man solche Unternehmungen nicht machen soll, aber man muss doch, glaube ich, etwas komplizierter die Dinge angehen und etwas subtiler dann am Ende auch damit umgehen, denn ansonsten tut man auch den Menschen, die sich da einfinden in diesem Bus, keinen Gefallen. Die werden dann am Ende für bestimmte Zwecke, mediale Zwecke vielleicht sogar instrumentalisiert: Man schaut, was passt, von dem, was die Leute sagen, und das sucht man dann heraus.

Das kennen wir ja aus einer Reihe von Fernsehdokumentationen, und das haben sicherlich diejenigen, die da hingehen, nicht im Sinn. Im Übrigen ist es natürlich auch so, dass schon allein die Entscheidung, dorthin zu gehen oder nicht hinzugehen, eine bestimmte Auswahl bedeutet, denn nicht jeder hat dieses unstillbare Bedürfnis wie ihr Reporter, dort hinzugehen und seine Erinnerungen abzuliefern und dann frustriert zu merken: Die 30 Minuten sind schon rum.

Bürger: Ja, und da wird ja auch, das haben wir ja eben gehört, ein Erinnerungsprozess in Gang gesetzt, mit dem der Einzelne dann danach …

Frei: Allein gelassen wird, ja.

Bürger: Genau, er steht danach auf der Straße. Also ist das nicht unter Umständen auch ein gefährliches, wenn nicht gar fahrlässiges Setting?

Frei: Also das kann in bestimmten Zusammenhängen, wenn es wirklich um existenzielle Erinnerungen geht, wenn dramatische Dinge erinnert werden, tatsächlich genau auch so sein, wie Sie sagen, und das hat es ganz sicher im Zusammenhang mit dem Projekt der Shoah Foundation mehr als einmal gegeben.

Hier scheint es mir eher so zu sein, dass – und dafür spricht ja auch schon so ein bisschen dieser Begriff "Gedächtnis der Nation" – … Auch das ist ja etwas, wo man fragen kann, warum eigentlich "der Nation", welcher Container ist es da, der hier gefüllt oder abgerufen werden soll, warum nicht "Geschichte der Deutschen", und was ist dann mit den Deutschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund? Also das sind ja alles ungelöste Fragen. Aber tatsächlich: Es kann passieren, dass Menschen am Ende dann sehr allein gelassen nach dieser kurzen Zeit wieder aus diesem Bus herauskommen und dass sie im Grunde genommen eigentlich nur das liefern sollen, was medial auch schon vielfach vorgegeben ist.

Denn es sind ja so bestimmte, durch unseren täglichen Mediengebrauch eingeschliffene Erwartungshaltungen an das, was man erinnern soll, was also die großen Ereignisse im Leben der Nation gewesen sind, und dann der persönliche Blick darauf. Also mit anderen Worten: Wie frei die Erinnerung des Einzelnen dann in einem solchen Setting ist und wie schwebend sie sich entwickeln kann, das ist doch sehr die Frage.

Bürger: Auf der Internetseite gedaechtnis-der-nation.de, da sind ja einige Themenkomplexe vorgegeben, über die man dann sprechen soll, drei sind es: die deutsche Teilung, der Holocaust und die Globalisierung. Sind das Themen, die auch aus Ihrer Historikersicht das nationale Gedächtnis – wenn Sie jetzt diesen Begriff annehmen würden – ausmachen?

Frei: Das sind alles drei wichtige Themen, selbstverständlich, aber was die Deutschen denken, auf solche drei Themen zu reduzieren und die Erinnerung darauf zu reduzieren, das scheint mir nicht richtig zu sein. Damit produziert man einen Verstärkereffekt. Also man hat bestimmte Vorstellungen davon, was erinnert werden soll, das erinnern diejenigen, die in den Bus gehen, dann auch, und dann wertet man das aus und verwendet es hinterher wieder.

Mit anderen Worten: Hier wird Erinnerung eigentlich geformt und nicht abgefragt, nicht konserviert. Hinzu kommt: Man muss sich natürlich dann auch klar sein, dass Erinnerungen etwas sind, was ja extrem fluide ist. Erinnerungen, wie wir alle wissen, verändern sich bei uns selbst, und wir erinnern uns 10 Jahre später an ein 30 Jahre zurückliegendes Ereignis anders als 20 Jahre nach dem Ereignis. Und alles das muss ja sozusagen, wenn man damit wirklich wissenschaftlich verantwortungsvoll umgehen will, mit einbezogen werden.

Bürger: Sie haben eben gerade auch die Shoah Foundation genannt, Guido Knopp nennt die ja als sein Vorbild, also Steven Spielbergs Großprojekt, für das er Zeitzeugen des Holocaust in sehr langen Einzelinterviews befragen ließ. Sind diese beiden Projekte tatsächlich miteinander vergleichbar?

Frei: Also nach dem, was ich jetzt verstanden habe über das deutsche Projekt, würde ich sagen, das ist doch sehr viel begrenzter in seinem Anspruch, denn in der Tat: Es geht bei der Shoah Foundation um sehr viel längere Interviews, und dann geht es um ein zentrales traumatisches furchtbares Ereignis, um das das Ganze kreist. Aber wenn man sich erinnert und zurückgeht in die Anfangsphase dieses Shoah-Projekts: Auch da gab es Kritik. Sind denn eigentlich die Interviewer wirklich hinreichend geschult, um mit diesen Erinnerungen und den Menschen umzugehen? Das hat sich dann im Laufe der Zeit offensichtlich mindestens geklärt insoweit, dass dieses Projekt weitergegangen ist. Aber wie gesagt, es handelt sich um ein sehr konzentriertes, auf ein Thema bezogenes Projekt.

Hier haben wir es ja mit einer Fülle von potenziellen Erinnerungen zu tun. Wenn sich die Leute nicht an die Vorgaben halten, dann kann es natürlich auch sehr wohl sein, dass die Interviewer mit Sachverhalten und Themen konfrontiert werden, von denen sie selber gar keine Ahnung haben.

Bürger: Gedächtnis der Nation, Guido Knopps neues Geschichtsprojekt, kritisch betrachtet von dem Historiker Norbert Frei. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Frei!

Frei: Bitte sehr, Frau Bürger!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Gedächtnis der Nation
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