Erinnerungen mit schwarzen Löchern

Rezensiert von: Helmut Hohrmann · 03.11.2006
Keine Sorge: So neu, so überraschend, so enthüllend sind die Memoiren von Altbundeskanzler Gerhard Schröder nicht, wie es die beispiellose Medienkampagne glauben machen könnte, mit der das Buch jetzt gerade noch rechtzeitig auf den Weihnachtsmarkt gebracht wurde.
"Schnell verblassende Erinnerungen" und "nur sporadisch gemachte Aufzeichnungen" nannte Schröder in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" als Grund dafür, warum er sich so rasch zu einer Niederschrift und Veröffentlichung seiner Memoiren entschlossen habe. Aber mit diesem Hinweis lassen sich weder die etwas chaotische Gliederung noch die zahlreichen Erinnerungslücken in seinem Buch entschuldigen.

Manches - wie etwa die Reibereien und Rivalitäten unter den so genannten Enkeln Willy Brandts schon in den Zeiten vor der rot-grünen Koalition - bleibt unerwähnt, sodass die Turbulenzen, in die besonders der sozialdemokratische Teil dieses zunächst so verheißungsvollen Regierungsbündnisses geriet, mit der Lektüre des Schröderschen Buches allein jedenfalls nicht verständlich werden. Fast schon lyrisch beginnt Schröder den Rückblick auf seinen entbehrungsreichen aber zielstrebig bildungshungrigen Werdegang vom Sohn einer armen Kriegerwitwe zum Juso-Vorsitzenden, Bundestagsabgeordneten und zum niedersächsischen Ministerpräsidenten:

"Erinnerungen aufschreiben, die Schwebeteilchen im Kopf zueinander bringen und zu Bildern fügen. Was war wichtig? War all das wichtig, woran Erinnerung bleibt? Oder gibt es schwarze Löcher, die mit Macht schlucken, was nicht erinnert werden will?"

Ja, schwarze Löcher haben in Schröders Erinnerungen tatsächlich einiges geschluckt. So wird nur schwer verständlich, wegen welcher sachlichen Kontroversen und handfesten Intrigen der SPD-Parteivorsitzende und Finanzminister Oskar Lafontaine schon nach fünf Monaten das Handtuch schmiss; warum Schröder als Parteivorsitzender danach an allen Gremien der Partei vorbei in London das stark neo-liberale Schröder/Blair-Papier zur Gesellschaftsreform präsentierte, ähnlich überfallartig wie später die Agenda 2010 zur Reform des Arbeitsmarktes, des Gesundheitswesens, der Steuer- und Investitionspolitik. Schröder zu seiner überraschenden Regierungserklärung vom 14. März 2003, die dann auf vier SPD-Regionalkonferenzen und einem Sonderparteitag im Juni innerparteilich mühsam vermittelt werden musste:

"Da sich die Struktur unserer Sozialsysteme seit fünfzig Jahren praktisch nicht verändert hatte, waren der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung unabweisbar geworden - mit dem Ziel seine Substanz zu erhalten. … Diesen Zusammenhang … habe ich oft genug vorgetragen. Es ist also falsch, wenn in der Öffentlichkeit, auch in der SPD immer wieder behauptet wurde, der politische Hintergrund der Agenda 2010 sei nicht hinreichend deutlich gemacht worden. Wer hören wollte, konnte wohl hören. Und wer nicht gehört hat, der wollte nicht."

Allerdings, eine detaillierte "Abrechnung" mit seinen Gegnern, sind Schröders Aufzeichnungen mit Blick auf die deutsche Innenpolitik nur sehr begrenzt. Fast ein bisschen dick aufgetragen erscheint vielmehr das auf vielen Seiten verstreute Lob für fast alle seine sozialdemokratischen und grünen Kabinettsmitglieder. Und kein Zweifel: Vieles aus der Erfolgsbilanz Schröders nach sieben Jahren rot-grüner Koalition dürfte inzwischen weitgehend unumstritten sein. Wie der Atomausstieg und die Wende zu erneuerbaren Energien etwa, die Riester-Rente, die Hervorhebung der Familienpolitik oder das verstärkte ökologische Bewusstsein beim Verbraucherschutz. Und die späte Rückbesinnung auf eine angemessene Förderung der Entwicklungspolitik.

Bei gleich zwei Gelegenheiten, nämlich bei der knappen Entscheidung über den Kosovo-Einsatz der Bundeswehr und bei der Debatte über die Agenda 2010 dankt Schröder ausdrücklich dem Altlinken Erhard Eppler, der ihm wie so oft in Notfällen beigesprungen sei. Dem IG-Metall-Chef Jürgen Peters und dem ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske dagegen, trägt Schröder weiterhin die Absicht nach, sie hätten ihn als Bundeskanzler und seine Reformagenda zu Fall bringen wollen und die Gründung einer linken Abspaltung von der SPD zumindest logistisch unterstützt. Und - so Schröders Fazit nach dem Bochumer Parteitag im November 2003 - auch die Strategie relevanter Teile der SPD-Linken habe darüber hinaus dazu beigetragen, dass eine neue Linkspartei entstehen konnte.

Konsequent und nachvollziehbar schildert Schröder schon an dieser Stelle seinen Entschluss, den Parteivorsitz Anfang 2004 Franz Müntefering anzutragen und genauso überzeugend lesen sich seine Begründungen für die vorzeitige Herbeiführung von Bundestagsneuwahlen nach der herben sozialdemokratischen Wahlschlappe im Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen.

"Hätte ich mich an mein Amt geklammert, wäre der Vorwurf berechtigt gewesen, ich würde die Handlungsfähigkeit des Staates aufs Spiel setzen. So aber bleibe ich dabei, dass vorgezogene Neuwahlen im Interesse der Stabilität des demokratischen Gemeinwesens Deutschland waren."

Eine fast 100 Seiten lange, sehr detaillierte Abrechnung enthält das Buch mit der inzwischen längst nicht mehr nur aus Schröders Sicht gescheiterten Irak-Politik des amerikanischen Präsidenten George W. Bush. Gescheitert als falsche und kontraproduktive Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, der er als deutscher Kanzler so entschlossen nur entgegentreten konnte, weil er seine Koalition zuvor mit Hilfe einer Vertrauensfrage zur geschlossenen Unterstützung des NATO-Einsatzes im Kosovo und später zum Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan gebracht hatte. Schröder schreibt mit Hinweisen auf die zunehmende Zahl kritischer Stimmen in den USA überraschend optimistisch:

"Ich setze erneut auf die Fähigkeit der Amerikaner, sich von Irrtümern zu befreien und wieder einmal einen neuen Anlauf zu wagen, der dann auch dazu führen könnte, die transatlantische Wertegemeinschaft neu zu beleben. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die USA zu ermutigen, den Kriegsschauplatz Irak zu verlassen. Allerdings bedürfte es dazu einer immensen strategischen Vorbereitung, die es allen Beteiligten ermöglichen müsste, das Gesicht zu wahren, und den sicheren Rückzug der Soldaten einschlösse. Wir brauchen eine Friedensinitiative, die den Terroristen das Wasser abgräbt und sie entmutigt. … Europa und möglichst eine erneute weltweite Koalition, eingeschlossen die arabischen Länder und Israel, müssen dazu einen Beitrag leisten."

Ähnlich optimistisch gibt sich Schröder mit seiner Vision eines Europa als "leise Weltmacht", die er als "eine gemeinsame Mission Deutschlands und Frankreichs" bezeichnet, weil beide in den vergangenen Jahren immer auch auf die soziale Komponente gedrungen hätten. Und als bekennender Freund und Bewunderer Vladimir Putins, für dessen rigide Innen- und Tschetschenienpolitik er merkwürdig viel Verständnis aufbringt, plädiert der Altkanzler für eine substantielle Erneuerung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Union und Russland, das eine Energiepartnerschaft, eine Freihandelszone und auch eine engere Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik beinhalten sollte.

Nicht im Rückblick auf seine Amtszeit, wohl aber in seinen Schlussfolgerungen für die Zukunft enthält Schröders Buch eine Menge neuer, anregender Gedanken. Etwa zur Friedens-, zur Umwelt- und zur Entwicklungspolitik.


Gerhard Schröder: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2006