Erinnerungen an eine ländliche Welt

05.10.2011
Einfühlsam und ohne je in ein Klischee abzurutschen: In lose aneinander gefügten Prosastücken lässt Katharina Hacker eine namenlose Ich-Erzählerin von der Welt des Dorfes erzählen.
Es sind lange, helle Tage, die sich wie Glasperlen aneinander reihen. Tage auf dem Land, in einem kleinen Dorf im Odenwald. Das alte Schulgebäude dient der mehrköpfigen Familie als Wohnhaus, und wenn die Kinder an einem Bauernhof vorbei gehen, nennt man sie "die aus der Schule". Die drei Geschwister streifen von früh bis spät durch den Wald und über die Felder, die Mutter versorgt sie mit Butterbroten oder Grießbrei, die Großmutter bepflanzt Beete, der Großvater repariert Gerätschaften, der Vater bleibt meistens unsichtbar.

In lose aneinander gefügten Prosastücken lässt Katharina Hacker, 1967 in Frankfurt geboren, ihre namenlose Ich-Erzählerin von der Welt des Dorfes erzählen. Die Heldin wandelt sich, die Zeitebenen verschwimmen: Es gibt das Mädchen mit ihren beiden Brüdern Simon und Frederik, die eine verschworene Gemeinschaft bilden, obwohl ihre Beziehungen spannungsreich sind, es gibt aber auch die erwachsene Frau, die mit ihren eigenen beiden Töchtern in das Dorf zurückkehrt und die Tradition der Sommerfrische wieder aufnimmt. Die Großeltern und Eltern sind längst tot, selbst der ältere Bruder Simon, in Kinderzeiten abwechselnd mutiger Anführer oder gnadenloser Herrscher über die Geschwister, lebt nicht mehr. Im alten Familienhaus scheinen Gegenwart und Vergangenheit eine Einheit zu bilden. Die Kindheit, die sich irgendwann in den 70er-Jahren zugetragen haben muss, hat sich hier eingenistet. "Eine Dorfgeschichte", wie Hacker ihr neues Buch mit Anspielung auf das literarische Genre der Dorfgeschichte nennt, ist auch ein Versuch, dem Prozess des Erinnerns eine Form zu geben. Auf formaler Ebene spiegelt sich dies in der typografischen Gestaltung: Der Fließtext auf der Mitte der Seite wird unterbrochen durch kursiv gehaltene Einschübe, die wie Marginalien am äußeren Seitenrand stehen und den Effekt einer zweiten Stimme haben. Wie ein Wispern durchdringt sie das Bewusstsein der Erzählerin, gewinnt an Kraft, verklingt wieder.

Es ist die Atmosphäre der "Dorfgeschichte", die einen sofort gefangen nimmt. Weder das Dorf, das tatsächlich existiert und Breitenbuch heißt, noch die Kindheit sind ein Idyll. Einfühlsam und ohne je in ein Klischee abzurutschen, vermittelt Katharina Hacker die Eigenart dieser Lebensphase, in der Fantasien, Ängste, Wünsche ebenso real sind, wie die konkrete Wirklichkeit. In einem Fort erfinden die Kinder Erklärungen für die Rätselhaftigkeit der Erwachsenen, von der sie strikt getrennt leben. Die Zeitläufte haben sich in den Menschen abgelagert. Die Großeltern tragen die Erfahrung der Vertreibung mit sich herum, und der Krieg mit seinen Folgen rumort noch im Untergrund. Immer wieder borgen sich die Kinder den Leiterwagen aus und spielen Flucht. Alles scheint vom Unheimlichen, wie Sigmund Freud es beschreibt, durchdrungen. Die ländliche Welt mit den Tieren, den Bauern, dem blinden Korbmacher und dem schwermütigen Jäger scheint die erste Welt zu sein, in der sich die Kinder bewähren müssen. Sie lernen, dass sie allein sind – und frei.

Besprochen von Maike Albath

Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
125 Seiten, 17,95 Euro


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