Erinnerungen an ein Sperrgebiet auf Rügen

Trügerische Ferienidylle Klein Zicker

Abendstimmung an der Findlingsküste bei Klein Zicker auf der Insel Rügen
Abendstimmung an der Findlingsküste bei Klein Zicker © imago / blickwinkel
Von Ulrike Sebert · 25.07.2018
Am südöstlichen Ende der Insel Rügen: Das beschauliche Klein Zicker lag mehr als 20 Jahre lang direkt an einem Sperrgebiet der Sowjet-Armee. Das ist längst aufwendig renaturiert – aber die Dorfbewohner erinnern sich an diese besondere Zeit.
Links und rechts Felder, Klatschmohnwiesen, sanfte Hügel, Wasser. Kleine Ortschaften: Middelhagen, Thiessow, eine schmale Straße: Sie führt an das schöne Ende der Welt. Das Land verschwimmt mit dem glitzernden Meer, bunte Kite-Schirme tanzen im Wind, weiter draußen weiße Segel.
Hinter den Salzwiesen in der Ferne die Groß Zickerschen Berge. Wo die Straße endet, schmiegt sich eine Handvoll Häuser an den Klein Zicker Berg, der sich sanft aus dem Wasser erhebt. Eine Halbinsel und ein Dorf am südöstlichen Rand der Ostseeinsel Rügen: Klein Zicker.

Umgeben vom Greifswalder Bodden und dem Zickerschen See

Klein Zicker war immer ein Fischerdorf. Umgeben vom Greifswalder Bodden und dem Zickerschen See. Ich erinnere mich an einen Spaziergang vor Jahren, im kleinen Hafen lagen viele Boote. Die Fischer kehrten zurück, an Land warteten die Frauen, um ihnen zu helfen, den Fang zu sortieren und die Fische später auszunehmen. Heute zählt das Dorf noch 60 Einwohner und lebt nicht mehr von der Fischerei, sondern von den Sommer-Touristen. Der alte Fischerhafen wirkt verwaist.

"Fahrzeugtyp silbergrauer Opel Ascona hat 15.31 Uhr den Rügendamm überquert. Um 16.12 Uhr bog das Fahrzeug in Putbus nach Sellin ab. Danach fuhr es über Sellin, Baabe, Middelhagen, Thiessow nach Klein Zicker. Um 16.40 Uhr erreichten sie den Strandabschnitt zwischen den Ortschaften Thiessow und Klein Zicker."

Beobachtungsbericht Ministerium für Staatssicherheit über die Einreise eines Senators des Westberliner Abgeordnetenhauses in Begleitung seiner Ehefrau am 21.September 1985 in den Bezirk Rostock.

Luftbild der Halbinsel Klein Zicker
Von Wasser umgeben: Die Halbinsel Klein Zicker aus der Luft gesehen.© imago / blickwinkel
Der Berg – oder sagen wir besser: Hügel – war Sperrgebiet, seit1967 bis 1991. Dort oben hatten die sowjetischen Streitkräfte eine Radarstation errichtet, mit 60 Mann Besatzung. In dieses Gebiet reiste ein Westberliner Politiker natürlich nicht unbeobachtet ein. Das Gelände war mit Stacheldraht umzäunt. Eine Geschichte, die so gar nicht zur Romantik dieses idyllischen Ortes passt.
"Schlimm war, dass die keine Müllabfuhr besaßen", erzählt Kerstin Dumrath. "Die haben alles in die Erde eingebuddelt, und dass das jetzt alles aus dem Ufer herauskommt, die alten Drähte und Metallsachen, das liegt dann alles am Strand oder ist zu sehen und die Gäste, die zahlreichen, die wir jetzt haben, die auch um Klein Zicker gehen, sehen das, und sagen, was ist hier passiert, aber das sind alles noch Relikte von damals."
Kerstin Dumrath ist in Klein Zicker aufgewachsen, sie arbeitet seit 1980 in der Gemeindeverwaltung, heute in der Kurverwaltung.

Aufwendige Renaturierung in den 90er-Jahren

Bernd Rost: "Wir waren übereingekommen, dass wir so weit wie möglich beräumen, aber nicht den letzten Betonpfeiler dort auch ausbuddeln."
Dr. Bernd Rost war Geschäftsführer des Landschaftspflegeverbandes Ostrügen. Er hat die aufwändige Renaturierung des unter Naturschutz stehenden Zickers in den Jahren 1997/98 geleitet:
"Wir haben dann auch sehr umfänglich planiert und haben versucht, dieses schöne sanfte Relief wiederherzustellen. Dann haben wir nach dem Planieren auf einer Fläche von insgesamt eineinhalb Hektar eine Trockenrasenmischung ausgesät."
Wir laufen die Dörpstraat entlang, die einzige Straße im Ort. Sie endet am Meer. Man kann das Steilufer am Strand umrunden, wir gehen den Wanderweg hinauf auf den Berg, wo Rotstraußgräser und Strandnelken den Weg säumen, Weißdornschlehen und Wildbirnen wachsen. Eine Lerche schraubt sich in den blauen Sommerhimmel. Oben weitet sich der Blick in alle Richtungen, paradiesische Ruhe, Freiheit!
Dass tiefe Furchen den Berg durchzogen und hässliche Wellasbestgebäude hier standen: heute kaum mehr vorstellbar. Sabine Bath gehörte damals zum Renaturierungsteam. Sie ist heute Geschäftsführerin des Landschaftspflegeverbandes:
"Als die Maßnahme abgeschlossen war, ist die Situation eingetreten, dass im Jahr 2002 dann von der Kliffkante was weggebrochen ist, ist ja ein aktives Kliff in Klein Zicker, und da ist tatsächlich noch mal eine Mülldeponie zu Tage getreten, die wir anschließend beräumt haben."
Bernd Rost: "Ob das noch mal passieren könnte, da müssen wir sagen, ja natürlich, wir sind ja nicht mit Sensoren langgegangen und haben nachgeforscht, ob noch irgendwo was vergraben ist. Das haben die Russen ja selber gemacht, ein Loch gebuddelt und wenn das Loch voll war, haben sie das Loch zu planiert.
Ein Warnschild weist am 22.08.2013 auf die Abbruchgefahr an der Steilküste am Strand von Klein Zicker (Mecklenburg-Vorpommern) auf der Insel Rügen hin.
Ein Warnschild an der Steilküste am Strand von Klein Zicker© picture alliance / dpa / Jens Büttner

"Sie hielten bei ca. 10-15 abgestellten PKW an. Die Insassen dieser Fahrzeuge betrieben zum Teil Windsurfing bzw. hielten sich am Strand auf. Objekt stieg aus dem PKW aus und ging an den Strand. Hier stellte er sich so, dass er sowohl die gesamte Radaranlage einsehen konnte, als auch den Windsurfern zusah."

Beobachtungsbericht Ministerium für Staatssicherheit

Kerstin Dumrath: "Klein Zicker ist sehr beliebt im Sommer, das sind richtige Touristenströme, das ist Wahnsinn, und die gehen natürlich da oben hin, da stehen ja auch Schilder."

Land für die Radarstation beschlagnahmt

Andreas Looks: "Das begann damit, dass hier ein Hubschrauber landete auf dem Klein Zicker Berg mit hochrangigen sowjetischen Offizieren. Dann rückten eine Zeitlang später wieder sowjetische Offiziere an mit Soldaten und haben ein Stück abgepflockt, wahllos, unabhängig von Grundstücksgrenzen. "
Erzählt Andreas Looks, der seit seiner Geburt in Klein Zicker lebt. Er ist der Sohn des Bauern, dem 1967 das größte Stück Land für den Bau der Radaranlage beschlagnahmt wurde:
"Und dann eines Nachts sind sie angerückt. Da stand mitten in der Nacht auf der Dorfstraße ein Tieflader mit Planierraupe und auf der Straße nach Thiessow, Richtung Wasser war ein Riesen-Zeltlager von Baupionieren. Und da haben sie auch schon angefangen zu bauen."
Margot Mandelkow: "Dann hieß es plötzlich, dass ab morgen alles russisches Territorium sei und die Kühe und alles, was auf der Weide befand, musste eben weg. Plötzlich merkten wir, dass, wie soll ich das sagen, ich meine, auf ziemlich brutale Weise wurde hier Besitz ergriffen und es hieß, es sei alles mit dem Rat des Kreises abgestimmt gewesen."
Margot Mandelkow ist 84 Jahre alt und lebt im letzten Haus an der Dörpstraat. Aus den Fenstern ihrer Veranda hat sie einen weiten Blick über das Wasser, auf den Berg hinter ihrem Haus und nach Groß Zicker. Ihr Mann ist im vergangenen Jahr auf tragische Weise ums Leben gekommen, als er der Beräumung der Hinterlassenschaften am Strand zugesehen hatte.

Soldaten patrouillierten an der Hecke entlang

Sie lebten 24 Jahre lang in unmittelbarer Nachbarschaft zur Radarstation. Bewaffnete Soldaten patrouillierten regelmäßig an ihrer Hecke entlang:
"Das war eine ganz große Beeinträchtigung, diese Nähe und die hat ja keine andere Familie im Dorf gespürt. Und deshalb haben die das auch nicht als so dramatisch angesehen. Na ja, die sind da eben da, die stören uns nicht weiter, also nehmen wir das so hin."
Andreas Looks: "Die Eigentümer wurden informiert. Mehr auch nicht. Und der Staat hat, weil mein Vater der größte Eigentümer und noch aktiv in der Landwirtschaft war, hat er sofort Ausgleichsflächen zur Nutzung gekriegt, aber nicht die gleiche Fläche, nur was der Staat zur Verfügung hatte. Und den Rest wollten die dann kaufen, für drei Pfennig pro Quadratmeter, hatte er nicht gemacht und die anderen Eigentümer, die die kleinen Flächen hatten, auch nicht.""
Margot Mandelkow: "Wir hatten glücklicherweise sehr viele Hühner und haben drei Viertel unseres Geländes eingezäunt. Da blieben sie fair an dem von uns errichteten Zaun, denn sie wollten gleich hinter dieser Häuserzeile was errichten. Die obere Hälfte wurde einfach beschlagnahmt. Und man baute darauf die Mannschaftskaserne, eine große Wagenhalle, verschiedene andere Schuppen. Und hier neben unserem Haus wurde ein Offiziersgebäude errichtet. Das heißt, wir konnten kein Wasser mehr sehen."
Kerstin Dumrath: "Klein Zicker ist ja der Spielplatz für Kinder, also war es mal, Strand, Steilufer, Wald, da konnte nicht viel passieren und auf einmal konnten wir da nicht mehr hoch. Man hat sich dann daran gewöhnt, sie waren ja lange hier."
Wir laufen über Sand. In Mulden versteckt – die Geschichte, über die Gras gewachsen ist.

"In den im Monat Juli durchgeführten Mitgliederversammlungen stand im Mittelpunkt der Diskussionen die Aggression Israels gegenüber den arabischen Ländern. Der überwiegende Teil der Genossen verurteilten auf das Schärfste die Aggression Israels."

Bericht Kreis-Partei-Kontrollkommission Bergen, den 3.8.1967

"Die ganze Ostsee wurde ja überprüft"

Margot Mandelkow: "Die ganze Ostsee wurde ja überprüft. Und zwar hieß es damals, da war doch der Sechs-Tage-Krieg Israel/Ägypten. Die Israelis konnten gewinnen, weil es eine Radarlücke gab. Und daraufhin hat man gesagt, in der Ostsee gibt es auch eine Radarlücke, man kann die nicht lückenlos überwachen, und wir brauchen hier noch eine Radarstation."

Christian Wolff, ehemaliger Radaroffizier der NVA, schreibt:

"Es war üblich, dass mit einem Aufklärungsflugzeug SR-71 mit dreifacher Schallgeschwindigkeit die Grenze zwischen NATO und Warschauer Pakt abgeflogen wurde. Oft wurden dabei auch kleinere Grenzabschnitte direkt überflogen. Mit Hilfe von Funkaufklärung konnte aber schon der Start dieses Flugzeuges in Birmingham bemerkt werden, sodass die Luftabwehr gut vorbereitet war. Das Kennwort dafür lautete 'Jastreb' – auf Deutsch: 'Habicht'. Wurde dieses Kennwort übermittelt, so wurden alle Radar- und Flugabwehr-Raketenstellungen entlang der deutschen Grenze und der Ostseeküste alarmiert."

Margot Mandelkow: "Jedes Mal, wenn wir telefonieren wollten oder nur den Hörer abnahmen, hörten wir die ganzen durchgegebenen Koordinaten. Dann haben wir uns an die Post gewandt und haben gesagt, wir wollen nicht, dass wir ständig Russisch in unserem Telefon haben. Und da kam die Post voller Entsetzen und hat gesagt, um Gottes Willen, und da wurde für die Russen eine extra Telefonleitung gelegt."
Frau Mandelkow erzählt, dass sie nach der Wende in ihrer Stasiakte lesen musste, dass sie als Spionin für den Westen geführt wurde.

"In Brandenburg, in der Schorfheide, waren russische Abfangjäger stationiert. Die MIG-25 war sogar etwas schneller als diese SR-71."

Christian Wolff, ehemaliger Radaroffizier der NVA

Vier große Geräte zur Luftraumerkennung

Auf dem Berg standen vier große Radargeräte zur Luftraumerkennung in circa hundert Meter Entfernung zum Dorf. Diese Anlagen waren auf LKWs stationiert, um in kürzester Zeit die Stellung verlassen zu können. Die verschiedenen Kennungsgeräte hatten eine Reichweite von 200 bis 600 Kilometern.
Gisela Zorn lebt im letzten Haus auf der linken Seite der Dörpstraat und erinnert sich:
"Wir hatten so ganz kleine feine Striche, hunderte von feinen Strichen auf dem Bildschirm und so ein Zischen immer dabei, und weil die Störungen immer mehr wurden, haben wir an die Post geschrieben und nie eine Antwort bekommen. Wenn eine bestimmte Antenne still stand, dann waren die Störungen weg. Wir haben uns dran gewöhnt."
Margot Mandelkow: "Dann kam es mal zu einer Aussprache, das fand hier in unserer Veranda statt, und da sollte dann die Bevölkerung sich äußern, da war ein Vertreter von Dranske hier und der Kommandant. Aber da hatten die meisten aus dem Dorf gesagt, das stört mich eigentlich gar nicht und dann blieben nur noch Frau Zorn und mein Mann übrig und dann hat die Post gesagt, tut ihnen leid, sie senden einwandfreie Programme raus und wenn das nicht gut ankommt, liegt es nicht an den DDR-Sendestellen und wir müssten eben sehen, wie wir fertig werden."

"Die SR-71 flog meist zwei Standard-Strecken, entweder entlang der Ostseeküste, oder entlang der Westgrenze. Diese Information, welche dieser beiden Strecken aktuell geflogen wird, konnte diese kleine Radarstellung in Klein Zicker recht früh aufklären und damit die Abfangjäger auf den richtigen Kurs bringen. Das 'Abfangen' ist dabei nur ein Nebenherfliegen. Damit wurde also verhindert, dass die SR-71 (das NATO-Flugzeug) zu dicht an die Grenze flog und vielleicht doch kleinere Grenzverletzungen durchführen konnte."

Christian Wolff, ehemaliger Radaroffizier der NVA

"Nach ca. fünf Minuten stieg die weitere Person aus dem PKW aus und ging zu ihm. Beide gingen anschließend am Strand entlang in Richtung Thiessow. Nach 400-500 Meter kehrten sie um und gingen den gleichen Weg zurück zum PKW. Auf diesem Wege hatten sie die Radaranlage ständig vor sich."

Beobachtungsbericht Ministerium für Staatssicherheit

Wie gefährlich war die Strahlung?

Margot Mandelkow: "Dann fiel uns auf, dass die Soldaten nur gerannt sind und in geduckter Stellung, wenn sie sich dann in die Nähe des Gerätes begeben oder was kontrolliert haben."
Kerstin Dumrath: "Na ja, natürlich wird öfter darüber gesprochen, aber jeder hofft, dass es keine Auswirkungen hat."
Margot Mandelkow: "Also Fakt ist, dass in Thiessow, Klein Zicker doch eine hohe Prozentzahl an Krebskranken hier aufgetreten ist. Ich denke schon, dass die Strahlung, na ja, wir kennen Tschernobyl und wir kennen die ganzen Probleme, die sich daraus ergeben."
Kerstin Dumrath: "Man liest ja das eine oder andere, das ist ja mit vielen Sachen so, wenn Sie das Kernkraftwerk in Lubmin angucken, das war ja auch nicht so gesund. Das Wasser war immer angenehm warm hier, das war ja auch nicht so gesund, obwohl das ein Stück weg ist von hier."
Gisela Zorn: "Wir haben mal was prüfen lassen. Aber das hatte nichts mit den Russen zu tun, das hatte was mit dem Kraftwerk zu tun. Wo die Kinder klein waren, kamen die vom Strand und hatten lauter so kleine Gummibälle und da hatten wir das untersuchen lassen und da kam dann raus, dass mit den Bällen die Ab- oder Zuläufe vom Kraftwerk gespült wurden. Aber was es genau war, hat man nie raus gekriegt. Man hat zwar später gesagt, es sind so viele Frauen, die hier oben Krebs kriegen, aber ob das nun daran lag, hat doch nie jemand untersucht."
Die Radarkommission des Bundesamtes für Strahlenschutz hat 2002 die gesundheitlichen Schädigungen von NVA– und Bundeswehrsoldaten anerkannt, die an Radargeräten tätig waren. Auf Anfrage an das Bundesamt wurde mitgeteilt, dass die Strahlung der Radargeräte auf die Einwohner im Ort Klein Zicker keine Auswirkungen gehabt haben können.

Studien über Häufung von Krebsfällen

Es gibt jedoch einige internationale Studien, die eine signifikante Häufung von Krebsfällen in einem Umkreis von drei Kilometern um eine Radarstellung beschreiben. So auch im Ort Vollersode in Niedersachsen, wo eine Radaranlage der Bundeswehr existierte. Die Auswirkungen von Störfällen im ehemaligen Kernkraftwerk Lubmin, dessen Schornsteine man heute noch auf dem Festland Richtung Usedom sehen kann, sind nicht untersucht.
Kerstin Dumrath: "Vor dem Eingangstor stand ein Wachposten, der hatte ein Gewehr in der Hand, böse Zungen behaupten heute, der hätte gleich geschossen. Das stimmt aber nicht, der hatte die Wachposition und rannte immer auf und ab. Das war, glaube ich, Tag und Nacht bewacht."
Andreas Looks: "Die Soldaten waren ja arme Hunde eigentlich, die kamen so gut wie nie raus, nur illegal, da haben sie Sprit verkauft, damit sie ein bisschen Geld hatten, damit sie sich mal ne Flasche Schnaps kaufen konnten oder was weiß ich."
Helma Dieckmann: "Bei uns kamen sie nicht in die Kneipe zum Schnaps kaufen, die sind nach Groß Zicker gegangen, hatte er doch gesagt, der Chef, wenn er nach Groß Zicker kommt, sind seine Soldaten da drin und tanzen Kalinka. Hier bei uns haben sie es gar nicht versucht. Ich hätte auch nichts verkauft."

Tanzende Offiziere und geflohene Soldaten

Helma und Martin Dieckmann betrieben von 1980 bis 1991 die Gaststätte "Zum trauten Fischerheim". Russische Offiziere waren regelmäßig zu Besuch, besonders auch zu Tanzveranstaltungen mit ihren Ehefrauen. Da sei es vorgekommen, dass die Radaranlage auch mal außer Betrieb gestellt wurde, um die Technik der Kapelle nicht zu stören. Das Ehepaar wurde oft auf den Berg zu Feierlichkeiten eingeladen.
Kerstin Dumrath: "Die züchteten auch für ihren Bedarf Schweine, und die Schweine sind regelmäßig ausgebrochen, weil die so schlechte Ställe hatten, die hetzten dann durch Klein Zicker und die Soldaten mussten die dann wieder einfangen."
Gisela Zorn: "Wir haben öfter mal gesehen, wenn einer von den Soldaten abgehauen ist, die sind ja nicht sehr nett behandelt worden. Die Frauen aus dem Dorf haben erzählt, wie sie sich dann in den Bäumen und Büschen versteckt haben. Ich hab es einmal gesehen, wie sie sie zurückgetrieben haben hier nach hinten. Na ja. Schön war das nicht."

"Um 17.19 Uhr stiegen beide in ihren PKW ein und blieben in diesem sitzen. Der PKW stand so, dass die Radaranlage links vor ihnen lag. Was sie im PKW taten, wurde nicht gesehen. Um 17.31 Uhr fuhren sie über Thiessow nach Middelhagen."

Beobachtungsbericht Ministerium für Staatssicherheit

Andreas Looks: "Die Offiziere gingen auch mal in die Gaststätte, aber das wechselte immer wieder. Da kamen immer neue Offiziere, die durften nicht zu viel Kontakt haben wahrscheinlich, da war auch mal ein Kommandant, da haben wir hier unten Fußball gespielt im Jugendalter, da hat er mitgespielt, der war dann aber auch wieder weg."

Freundschaften und andere Beziehungen

Kerstin Dumrath: "Die waren teilweise mit uns befreundet. Auch die Kinder waren untereinander befreundet, die in Klein Zicker lebten. Die Frauen gingen auch in unseren Einkaufsladen, das war ganz normal."

Bericht eines informellen Mitarbeiters der Stasi über Alltagsbeobachtungen im Dorf:

Er ist ein rechtschaffender Mann, (aber sie ... )
Nach Beobachtungen, die angestellt worden sind, liegt seine Frau viel im Sommer fast im Adamskostüm am Zaun der sowjetischen Truppen und versucht, sexuelle Beziehungen aufzunehmen. Sie liegt so günstig, dass ihr Treiben von der Bevölkerung nicht gesehen werden kann.

Kerstin Dumrath: "Wir durften ab und zu ins Magazin, nur ein Tag in der Woche, dann gingen wir hin und haben uns beim Posten gemeldet, der hat dann angerufen und dann konnten wir dorthin und die Sachen einkaufen, irgendwelche Kaffeeservices, was heute kein Mensch mehr braucht."
Gisela Zorn: "Wenn man reinwollte, kam man jederzeit rein. Wir sind ja auch reingegangen. Die Frauen sind alle hoch gegangen. Da hat niemand was gesagt."
Ein informeller Mitarbeiter der Stasi berichtete am 15.7.1983, dass Bier aus Beständen der NVA in Klein Zicker zum Gaststättenpreis an die Einwohner weiterverkauft wurde.

"Die gleichen Geschäfte werden durch die Frau mit Waren betrieben, die hier im sowjetischen Magazin eingekauft werden. Hierbei handelt es sich überwiegend um Konserven sowie alle anderen Artikel, die es im Magazin zu kaufen gibt. Diese Gegenstände werden alle in der Wohnung der Frau weiterverkauft."

Beobachtungsbericht Ministerium für Staatssicherheit

Andreas Looks: "Für die Vermietung gab es von Militärseite keine Einschränkung. Für FDGB konnte man ja vermieten, soviel Zimmer wie man hatte, aber privat durfte man nur einen Durchgang, drei Wochen in der Hauptsaison, glaube ich, die dann privat kamen. Das war eingeschränkt, von der Gemeinde, vom Staat her."

Übersichtliche Gästezahlen zu DDR-Zeiten

Die Zahl der Urlaubsgäste in Klein Zicker war in der DDR-Zeit übersichtlich. Insgesamt 47 Betten wurden an Urlauber vermietet. Die Gäste blieben mindestens zwei, oft auch vier Wochen in ihren Quartieren und kamen jedes Jahr wieder. Man kannte sich und es entstanden freundschaftliche Beziehungen. Der Strand bei Klein Zicker war ein sogenannter wilder Strand und wurde hauptsächlich von FKK-Badenden genutzt.
Helma Dieckmann: "Die ganzen Privaturlauber haben oben gegessen. Dann haben wir zweimal in der Woche Tanz gemacht, jede Woche, den ganzen Sommer durch. Die Dorfleute waren begeistert, die brachten noch Stühle von zu Hause mit, weil das nicht ausreichte. Wir hatten 130 Plätze."
Uwe Jähnichen: "Mein Name ist Uwe Jähnichen. Ich hatte mit Klein Zicker insofern was zu tun, dass wir dort zum Windsurfen hingefahren sind. Von 1980 bis 88. Und da man im Osten nicht auf die Ostsee durfte, war das die einzige Möglichkeit, so ein bisschen das Gefühl von Wellen zu bekommen, weil es ja ein relativ großes Gewässer ist, der Greifswalder Bodden."

Zentrale Zuweisung der FDGB-Urlauber

Die FDGB-Urlauber konnte man sich nicht aussuchen. Sie wurden von der Zentrale in Thiessow auf die Zimmer verteilt. Pro Bett und Übernachtung erhielt der Vermieter ein bis drei DDR Mark, je nach Ausstattung. Die Zimmer wurden durch eine Kommission überprüft und auch während der Saison kontrolliert. Wäsche wurde geliefert.
Eine wohl geordnete Welt, in der freie Urlauber wie Uwe Jähnichen auffielen:
"Wir haben in Autos geschlafen und das wiederum war eigentlich verboten, weil alles Grenzgebiet war und wir mussten uns immer irgendwelche Plätze suchen, wo der Grenzschutz oder die Polizei uns nicht gefunden haben. Entweder man wurde verhaftet und mitgenommen nach Stralsund oder man wurde nur weggejagt, nachdem die Dokumente und Adressen aufgeschrieben wurden."
Ein selbst gebautes Holzschild informiert am 22.08.2013 in Klein Zicker (Mecklenburg-Vorpommern) auf der Insel Rügen über die Belegung einer Ferienwohnung. Klein Zicker ist eine zur Ostseeinsel Rügen gehörende Halbinsel und wegen ihrer Ursprünglichkeit vor allem bei Naturliebhabern sehr beliebt. 
Ferienwohnung belegt: ein Schild in Klein Zicker heute© picture alliance / dpa / Jens Büttner
Heute zählt das Dorf knapp 80 Ferienwohnungen und über 200 Gästebetten. Viele Häuser stehen im Winter leer, weil die Besitzer nicht in Klein Zicker leben. Kontakte zwischen Einheimischen und Touristen gibt es kaum.
Der Weg zum Nordhang hinunter führt, vorbei an weidenden Schafen, am kleinen Hafen entlang wieder zum Eingang des Ortes. Touristen sitzen im Strandimbiss in der Sonne und essen Fischbrötchen. Die Kite-Surfer sind noch immer unterwegs. Es riecht nach Sonnenmilch.

"Um 17.38 Uhr hielten sie 200 m vor dem Abzweig Gager auf einem Parkplatz an und gingen an den Strand. Hier befand sich in ihrem Sichtbereich ein Handelsschiff und ein Grenzkontrollboot der Grenzbrigade Küste. Vom letztgenannten Boot waren mit bloßem Auge keine Details zu erkennen. Um 17.44 Uhr stiegen sie wieder in ihren PKW und fuhren ab."

Beobachtungsbericht Ministerium für Staatssicherheit

Kein günstiger Ort, um die DDR zu verlassen

Kerstin Dumrath: "Die ganzen Fluchtgeschichten, als Leute rüber wollten. Bei uns war das natürlich ungünstig im letzten Zipfel, aber solche Leute haben sich hier auch aufgehalten. Das weiß ich aus den 80er-Jahren. Da war ich schon bei der Gemeinde, wir sollten immer auf solche Leute achten, die hier mit Rucksäcken und die ein bisschen anders aussahen, die sollten wir dann sofort melden. Vielleicht haben wir es gemacht, vielleicht auch nicht. Aber so war das, es wurde alles überwacht.
Helma Dieckmann: "Zu mir hat auch mal eine Kundin im Laden oben gesagt, wenn man hier abhauen will, wie macht man das. Hab ich gesagt, ich komm gleich, da bin ich rausgegangen. Ich hatte so einen großen Lichtmast vorm Laden stehen. Ich sagte, ich hole ihnen jetzt einen Strick, da können Sie sich aufhängen, so ne Chance haben sie hier, wegzukommen. (lacht)"

Einschätzung des Objektes

"Im Strandabschnitt zwischen Thiessow und Klein Zicker ist keine besondere touristische Sehenswürdigkeit zu sehen. Das Surfen der Personen war offensichtlich unorganisiert und trug keinen Charakter von vorangekündigten Wettkämpfen. Die örtlichen Bedingungen waren für die Durchführung von operativ-bedeutsamen Handlungen des Objektes sehr gut geeignet.
Insgesamt wird eingeschätzt, dass das Objekt nicht zufällig die im Bericht genannten Militärobjekte anfuhr. Insbesondere wurde eine gewisse Zielstrebigkeit beim Anfahren der Radaranlage Klein Zicker festgestellt.
Gez. Leiter der Abteilung Krase/Oberleutnant und Leiter des Referates Guse/Major"

In den 80er-Jahren beobachtete die Staatssicherheit verstärkt das Gelände der Radarstation in Klein Zicker. Informelle Mitarbeiter berichteten von allen Personen, die private Verbindungen zum militärischen Objekt unterhielten, meldeten jedes fremde Auto, besonders auch mit westlichem Kennzeichen und dokumentierten Sicherheitslücken im Stacheldrahtzaun.

"(Da) das Objekt gerade in der derzeitigen Klassenauseinandersetzung einen Schwerpunkt der imperialistischen Geheimdienste bildet."

Beobachtungsbericht Ministerium für Staatssicherheit

Interessant für westliche Geheimdienste

Für westliche Geheimdienste war interessant, wie das Objekt bewacht wurde, wie spezielle Einzelkämpfer, zum Beispiel Kampfschwimmer oder Fallschirmjäger, das Führungssystem der Anlage übernehmen konnten oder auch, wie die Antennen ausgerichtet waren.
Uwe Jähnichen: "Die Russen, die da stationiert waren, mit denen hatte man eigentlich überhaupt keine Berührungspunkte, außer dass sie manchmal auch am Strand in Thiessow patrouilliert sind, aber die waren nicht unangenehm, die haben sich auch interessiert dafür."
Helma Dieckmann: "Da ist auch keiner belästigt wurden von den Soldaten oder so. Die haben hier am Strand gelegen, die Urlauber, auch da gibt es nichts, dass da irgendwas mit den Russen war. Die Russen haben sogar dem Bauer das Haus gerettet, als die Scheune gebrannt hatte."
Offiziere und Soldaten haben geholfen, Gräben zu ziehen und in einem harten Winter die Versorgung des Mönchgutes gesichert. Dass man selten auf das abgesperrte Gelände kam, wie am Anfang von vielen berichtet, scheint am Ende gar nicht mehr so schlimm gewesen zu sein. Man hatte sich an die Situation gewöhnt, hatte miteinander gelebt, trotz allem waren die Grenzen durchlässig zu beiden Seiten.
Selbst in Mannschaftsunterkünften der Soldaten wurden einzelne Anwohner regelmäßig beobachtet. Frau Mandelkow setzte sich als Lehrerin dafür ein, dass ein russisches Mädchen in die deutsche Grundschule eingeschult wurde. Frau Zorn erzählt, dass es später in Süddeutschland studiert habe und dort heute eine kleine Zinkfabrik leiten soll.

Keine offizielle Verabschiedung nach der Wende

Andreas Looks: "Die Wende kam ja dann, da war ja erst so ne prorussische Welle in der gesamten Bundesrepublik, die Annährung Gorbatschow/ Kohl, da haben wir mal eine Feierstunde gemacht da oben."
Gisela Zorn: "Die waren dann von einem Tag auf den anderen weg. Dann waren nur noch die Offiziere hier, dann kamen noch die Container und dann waren die auch weg. Aber offiziell hat sich von denen keiner verabschiedet, auch nicht von den Offizieren, Frauen und Kindern, zu denen wir Verbindung hatten. Nichts. Ob sie nicht durften oder was."
Andreas Looks: "Und dann wurde es vom Bundesvermögensamt mehrere Jahre bewacht. Und dann ging es immer um diese Verhandlungen wegen Rückübertragung, im Grundbuch standen die Eigentümer ja alle noch drin. Daran hatte sich ja nichts geändert."
Bernd Rost: "Das zu beräumen, wäre nicht das Problem gewesen. Viel problematischer war, dass nach der Rückübertragung der Besitzer dieser Fläche natürlich massenhaft Angebote hatte, diese ganze Halbinsel Klein Zicker touristisch zu vermarkten. Da ging es um richtig viel Geld. Da kann ich nur sagen, ein ganz großes Lob der Gemeindevertretung Thiessow, insbesondere der damaligen Bürgermeisterin Frau Zorn, die sich vehement dafür eingesetzt hatten, Klein Zicker nicht touristisch zu zersiedeln, sondern das, wenn es geht, in ihrer natürlichen Belassenheit zu bewahren."
Fischerboote in Klein Zicker auf der  Insel Rügen
Die Ursprünglichkeit bewahrt: Fischerboote in Klein Zicker.© picture alliance / Arco Images / Moebes

Endlich wieder freier Blick nach dem Abriss

Margot Mandelkow: "Wir waren natürlich froh, als das abgerissen war, den Blick auf Groß Zicker machen konnten, man konnte ja gar nicht rüber sehen. Wir waren also sehr froh und haben nie zu hoffen gewagt, dass das mal ein Ende hat."
Klein Zicker. Das Dorf und die Halbinsel sind befreit von den hässlichen Bauten aus der Zeit des Kalten Krieges. Wer heute auf dem Berg – oder sagen wir besser: Hügel – steht, kann die Ruhe und die Weite genießen. Nur ab und an ragt noch Geschichte aus dem Boden.
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