Erinnern so lange es geht

26.11.2012
Mit dem Alter kommt das Vergessen. Barney Panofsky will sich dem so lange wie möglich entziehen und schreibt deshalb alles auf, was er erlebt hat. "Wie Barney es sieht" ist ein Bildungsroman des Altwerdens, humordurchtränkt und klug geschrieben.
Barney Panofsky ist ein Schwätzer. Er quatscht, tratscht, lästert, jammert und erzählt eine Anekdote nach der anderen. Ausgerechnet ihm, diesem Montrealer Juden, Familienvater, Fernsehproduzenten und dreifachem Ehemann, dessen ganzes Leben aus Geschichten und dem Erzählen von Geschichten besteht, fallen plötzlich bestimmte Wörter nicht mehr ein: Wie heißt das Ding, mit dem man Spaghetti abseiht? Wie lauten die Namen der Sieben Zwerge in der Walt-Disney-Verfilmung? Mit solchen Fragen stellt Barney sein Gedächtnis auf die Probe. Und weil er um das Versagen seiner Erinnerung fürchtet, beginnt er, seine Version von der Vergangenheit zu Papier zu bringen. Das Produkt halten wir in den Händen: Die Memoiren eines alten Mannes, herausgegeben von seinem Sohn, der sich mäkelnd und besserwisserisch in Fußnoten zu Wort meldet.

Der kanadische Schriftsteller Mordecai Richler, 1931 als Sohn eines Schrotthändlers in Montreal geboren und 2001 verstorben, legt mit "Wie Barney es sieht" eine Art Bildungsroman des Altwerdens vor, eine humordurchtränkte Lebensbilanz, entlang erzählt an Barneys drei Ehefrauen Clara, Mrs. Panofsky und Miriam. Die Neuausgabe des 1997 im Original und 2000 erstmals in deutscher Fassung erschienen Bandes ist Teil einer verdienstvollen Werkausgabe Richlers im Liebeskind Verlag.

Die Wirkung des Monologs liegt zunächst in dem Tonfall, den Richler seinem Helden auf den Leib schneidert. Richler erfindet ein vermeintlich mündliches Idiom; man hat sofort das Gefühl, Barneys Stimme zu hören und sieht einen attraktiven, angegrauten Charmeur vor sich, der lässig hinter seinem Schreibtisch hängt, ein Whiskeyglas in Reichweite. Respektlos zieht Barney über Kanada her, räumt mit Feministinnen und Anhängern von Vollkornkost auf und entlarvt das Sublime genussvoll als banal.

Aber auch sich selbst gegenüber spart er nicht an Ironie. Lakonisch kommentiert der gealterte Serienproduzent, der für seine eigene Arbeit nur Verachtung übrig hat, die schlimmsten und glücklichsten Momente seines Lebens. Als versierter Romancier fabriziert Mordecai Richler, Verfasser von über einem Dutzend Büchern und in Kanada einer der meistgelesenen Autoren, eine Mischung aus Satire, Schelmenroman, rührseliger Liebesgeschichte, Ehedrama und Krimi. Über die gegenläufige Erzählerstimme in den Fußnoten unterminiert er das, was im Haupttext zu lesen ist: Dass Barney Panofsky an seinem eigenen Mythos arbeitet, war sowieso von der ersten Zeile an klar.

Was als fahriges Geplapper eines alten Mannes daherkommt, ist in Wirklichkeit ein durchkalkuliertes Spiel mit den Erzählebenen. Barney handelt die Stationen seiner Biografie eben nicht bieder hintereinander ab, sondern springt hin und her, schildert das Familienleben der 60er-Jahre, beschreibt seine letzte Nachtruhe, erzählt von seinem Vater, einem kleinen Polizisten mit obszönen Neigungen, kommentiert die neuesten Eishockey-Ergebnisse bis er den roten Faden des jeweiligen Kapitels wieder aufnimmt. Trotz der Enttäuschungen ist Barney versessen aufs Leben und kann nicht davon lassen. Aber er macht sich nichts vor, er ist alt und verliert sein Gedächtnis. Solange er kann, will er sich wenigstens erinnern.

Besprochen von Maike Albath

Mordecai Richler: Wie Barney es sieht
Aus dem Englischen übersetzt von Annette Grube
Liebeskind, München 2012
464 Seiten, 22,00 Euro
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