Erich Zengers Theologie ohne Antijudaismus

Vom "Alten" zum "Ersten" Testament

06:18 Minuten
Aufgeschlagene Bibel und Thora liegen übereinander
Bibel und Thora: Beim Auslegen des "Ersten Testaments" werden in den christlichen Kirchen zeitgenössische jüdische Kommentatoren in der Regel ignoriert. © picture alliance / Robert Harding
Von Georg Magirius · 01.03.2020
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Eine Heilige Schrift, zwei Religionen: Das Christentum hat die Heilige Schrift des Judentums komplett übernommen. Nicht immer verlief das respektvoll, und genau hier setzte der Versuch des Theologen Erich Zenger an, es anders zu machen.
Der erste große Teil der christlichen Bibel wird "Altes Testament" genannt. Doch ausgerechnet der wohl renommierteste deutschsprachige Alttestamentler seiner Generation hat diese Bezeichnung in Frage gestellt. Erich Zenger, der vor zehn Jahren starb, wollte seinen Forschungsgegenstand lieber nicht mehr als "alt" bezeichnen.
"'Altes Testament' kann man zunächst einmal vor allem in den romanischen Sprachen richtig verstehen: Alt ist, was altbewährt ist. Wer eine Faszination für Antiquitäten hat, wird mit dem Wort 'alt' hohe Wertschätzung verbinden. Aber wenn man ehrlich ist: In unserer christlichen Tradition verbindet sich für viele mit der Etikette 'Altes Testament' Altgewordenes, eigentlich Veraltetes, Überholtes durch das Neue. Und wir haben es eigentlich nur noch, weil wir’s haben."

Kein "Buch des Scheiterns"

Rudolf Bultmann, einer der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts, bezeichnete das Alte Testament als "Buch des Scheiterns". In der Umgangssprache wird alttestamentarisch oft mit gewalttätig oder finster gleichgesetzt. Nicht sehr viel differenzierter äußert sich der populäre Theologe Eugen Drewermann: Zwischen der Barmherzigkeit Jesu und dem Gott des Alten Testaments bestehe ein Gegensatz. Anders der katholische Theologe Erich Zenger:
"Ich wehre mich eben gegen all die Theorien und Ansätze, die sagen: Das ist das radikal Neue! Das ganz Andere! Wo sich das Christentum profilieren will von allem, was vorher war. Nein! Es ist diese Dialektik, das Neue erwächst aus dem Alten und im Gespräch aus dem Alten. Das ist nicht etwas radikal Neues. Sondern sozusagen: Das Alte hat in sich die Kraft, Neues zu generieren."

Zengers Bucherfolg

1994 veröffentlichte Erich Zenger sein Buch "Das Erste Testament". Bücher von Bibelwissenschaftlern richten sich oft an Fachleute, werden in geringer Stückzahl gedruckt. Zengers Buch wurde in kurzer Zeit mehrfach nachgedruckt. Unterdessen liegt es in der achten Auflage vor. Gegen alle möglichen Abwertungen des Alten Testaments stellt Zenger signalartig ein neues Adjektiv:
"Diese Bezeichnung 'Erstes Testament' gebrauche ich, um die Würde zu betonen: Nicht abgeschafft, nicht alt geworden. Zweitens, um zu betonen: Das ist das Fundament, auf dem alles andere ruht. Die historische Wahrheit: Es ist die erste Bibel der jungen Kirche gewesen. Aber es ist natürlich auch das Buch – auch deswegen gebrauche ich es noch – von dem Ersten Bund Gottes mit der Schöpfung und seinem Volk Israel. Und es ist das Buch, das zeugt von der Liebe Gottes zu seinem Erstlingssohn. Und der Erstlingssohn ist, wir Christen können es drehen und wenden, wie wir wollen, der Erstlingssohn ist und die erste Liebe Gottes gilt Israel."

Schwierige Stellen der Überlieferung ernstnehmen

So gelte es, das Erste Testament immer wieder neu zu lesen und auszulegen, leidenschaftlich, aber nicht naiv – auch die Psalmen, die zur Weltdichtung gehören. In ihnen gibt es, genauso wie im Neuen Testament, Stellen, die sich als Aufruf zur Gewalt missverstehen lassen. Falsch sei es, Verse wegzuschneiden wie in der erneuerten Fassung der katholischen Stundengebetsliturgie, die auf den Psalmen beruht. Vergebens sucht man, beispielsweise Vers 19 aus Psalm 139: "Oh Gott, wenn Du doch die Frevler töten würdest." Und das, obwohl dieser Psalm Teil der Stundengebetsliturgie ist. Für Zenger ein Unding.
"Das beten ja ausgebildete Theologen, das beten ja Ordensleute, das ist das offizielle Gebet der Kirche, die sich ja um diese Texte mühen sollen und mühen können – dass man da nun gerade Zensur übt. Es gibt schwierige Texte, aber mit schwierigen Texten muss man sich auseinandersetzen, und da halte ich es für falsch, dass man dann rangeht und die Texte zerschneidet. Ich meine, man soll auswählen, aber nicht zerschneiden. Ich nenne das eine lehramtliche Barbarei."

Bibelauslegung von den jüdischen Rabbinern lernen

Beim Auslegen des Ersten Testaments werden in den christlichen Kirchen zeitgenössische jüdische Kommentatoren in der Regel ignoriert. Zenger brach mit dieser Gewohnheit, was sich in seinem Lebenswerk spiegelt: "Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament". Die von ihm begründete Kommentarreihe wird auch nach seinem Tod Band um Band fortgeführt.
Unter den Autoren sind katholische, evangelische, aber auch jüdische Wissenschaftlerinnen und Ausleger, ein Novum im deutschsprachigen Raum. Einen Lebenstraum allerdings konnte Zenger sich nicht mehr erfüllen, nämlich einen Kommentar anzustoßen zur Thora, den fünf Büchern Mose. Und zwar im Stil der großen Rabbinerbibeln.
"Da steht in der Mitte der biblische Text. Und meine Idee: Links kommentiert ein Jude und rechts ein Christ. Aber nicht im Sinne der Philologie, das steht unten im Apparat. Sondern das wird so kommentiert: Was bedeutet dieser Text für jüdische Existenz, was bedeutet dieser Text für christliche Existenz? Und zwar in Augenhöhe, etwas befreit von der ganzen Last der christlich-jüdischen Verwerfungsgeschichte.
Sondern ein Kommentar, in dem die Polemik zurücktreten kann, und in dem ein Jude und eine Jüdin und eine Christin und ein Christ sich zunächst einmal aussprechen kann in der Faszination des biblischen Textes und wo unten dann sozusagen auch die Wissenschaft mit reflektiert wird. Das ist eine Tradition, die ja von den Rabbinerbibeln da ist, wo dann deutlich sichtbar wird: Bibel lesen heißt, sich in ein Gespräch verwickeln lassen."
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