Erich Kästner: "Das Blaue Buch"

Die Absurdität des Weltenlaufs

Das Cover von Erich Kästners "Das Blaue Buch"; im Hintergrund ist der Schriftsteller zu sehen.
Das Cover von Erich Kästners "Das Blaue Buch"; im Hintergrund ist der Schriftsteller zu sehen. © Atrium / dpa / picture-aliance
Von Bettina Baltschev · 24.02.2018
Seine Bücher wurden verbrannt, sein Gesamtwerk geriet auf den Index. Doch Erich Kästner ging nicht ins Exil, sondern schrieb unter Pseudonym weiter. Ein geheimes Kriegstagebuch offenbart jetzt die widersprüchlichen Seiten seiner Existenz.
Erich Kästner hat dieses Buch gehütet wie seinen Augapfel. Er hat es bei jedem Angriff auf Berlin mit in den Luftschutzkeller genommen, es zwischen Waschbeutel und Taschenlampe in seiner Aktentasche durch den Zweiten Weltkrieg getragen. Und weil es ein in blaues Leinen eingeschlagenes Buch war, hat es der Kästner-Biograf Sven Hanuschek nun unter dem Titel Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941-1945" herausgegeben, in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker. Die erklärte Absicht der Aufzeichnungen formuliert Erich Kästner bereits in seinem ersten Eintrag am 16. Januar 1941:
"Der Entschluss ist gefasst. Ich werde ab heute wichtige Einzelheiten des Kriegsalltags aufzeichnen. Ich will es tun, damit ich sie nicht vergesse, und bevor sie, je nachdem wie dieser Krieg ausgehen wird, mit Absicht und auch absichtslos allgemein vergessen, verändert, gedeutet oder umgedeutet sein werden."

Deprimierte und bissige Kommentare

Was folgt ist keine tägliche Chronik. Immer wieder klaffen Wochen und Monate zwischen den Einträgen, aus den Jahren 1942 und 1944 erfährt man gar nichts. Doch die Berichte von 1941, 1943 und 1945 sind umfangreich genug. Kriegsbewegungen, Gerüchte um menschliche Schicksale, sogenannte "Flüsterwitze", Zeitungs- und Radiomeldungen kommentiert Kästner - mal deprimiert, mal bissig. Dass Kästner sein Tagebuch nicht aus der Hand gibt und es gar in der Gabelsberg’schen Kurzschrift verfasst, liegt vermutlich auch an Sätzen wie diesen, vom 7. August 1943:
"Die herzhafte Frische, mit der die Regierung immer wieder zum Heroismus in Bombennächten aufruft – da ja die Waffen, die den Gegenschlag führen sollen, leider noch immer nicht fertig geschmiedet sind – legt einen Vergleich nahe: Die Bevölkerung wird wie ein Duellant behandelt, dem die Sekundanten lächelnd eine alte Plempe in die Hand drücken und dessen Gegner sichtbar einen Revolver hat. Nur Mut, mein Lieber! Ja, nur Mut? Ein besseres Exempel, das Wesen des Zynismus zu verdeutlichen, gibt es kaum."
Zwischen den Beobachtungen und Anmerkungen zum Kriegsverlauf tauchen immer wieder vielsagende Szenen aus dem persönlichen Leben Kästners auf. 1933 muss er zwar dabei zusehen, wie auch seine Bücher auf dem Scheiterhaufen der Nationalsozialisten landen, dennoch arrangiert sich Kästner erfolgreich mit dem Regime. Unter Pseudonym verfasst er Unterhaltungsliteratur und Drehbücher für die Ufa, was ihm bis in die Kriegsjahre hinein ein gutes Einkommen beschert.
Und so erfahren wir eben auch, wie der Schriftsteller in Berlin zum Frisör und ins Kino geht, wie er Bars und Restaurants besucht. Dass Kästner sein Tagebuch auch führt, um Stoff für mögliche Romanprojekte zu sammeln, davon zeugt das letzte Drittel des "Blauen Buches". Es sind Stichpunkte, Gedankensplitter und Anekdoten, in denen seine Aufzeichnungen bereits verarbeitet sind. Als Titel schwebt Erich Kästner unter anderem "Das tausendjährige Reich", Der Eiserne Vorhang" oder Heil Hitler!" vor. Einen möglichen Plot skizziert Kästner folgendermaßen:
"Vielleicht als Grundzug das Schicksal dreier Freunde: einer ein Maler, der schwankend wird und den Kopf verliert; ein Universitätsprofessor, der seinen Sohn richtig erzogen hat, und der Schriftsteller, der die Zeit überwintert, aber privat viele Abenteuer hat; er spielt ein bisschen für die Beobachter den Scarlet Pimpernel; man soll ihn für einen begeisterten Privatier halten. Er zeigt sich den Spitzeln als Bummelant. Hat Geld von Hollywood."

"Das Leben geht weiter"

Doch das große Panorama, der große Roman über die Zeit zwischen 1933 und 1945 bleibt aus. Stattdessen schreibt Erich Kästner in der Bundesrepublik fürs Kabarett und für den Rundfunk und auch seine Kinderbücher werden wieder gefeiert. 1961 erscheinen stark redigierte Auszüge des Tagebuchs unter dem Titel "Notabene 45". Dabei wird die ganze Absurdität des Weltenlaufs gerade in einem der ursprünglichen Tagebuch-Einträge deutlich, wenn Kästner einige Wochen nach Kriegsende notiert:
"Die anständige deutsche Bevölkerung muss als jenes Volk dargestellt werden, das als erstes, am längsten und am nachhaltigsten von den Nazis ausgepowert und malträtiert worden ist. Heute habe ich mir einen Tennisschläger gekauft. Für sechzig Mark. Na ja. Das Leben geht, wie gesagt, weiter."
Das "Blaue Buch", dieser schön aufgemachte und mit zahlreichen Anmerkungen und Verweisen versehene Band, ist ein aufschlussreiches Werk. Dennoch lässt es einen mit ambivalenten Gefühlen zurück. Denn während es drei Kriegsjahre in Deutschland eindringlich protokolliert und kommentiert, wird zugleich ein Autor sichtbar, der es nicht vermochte, seine private Chronik zu einem gültigen Werk zu transformieren.
Am Talent kann es sicher nicht gelegen haben. Aber vielleicht ja am Zeitgeist der Nachkriegsjahre, dem Rückbesinnung eher ein Gräuel war. Kann sein, dass sich Erich Kästner mit der literarischen Aufarbeitung dieses entscheidenden Kapitels deutscher Geschichte auch überfordert fühlte. Vorwerfen kann man ihm das nicht. Tatsächlich enden diese Tagebuch-Aufzeichnungen mit der Wiedergabe des Berichts eines heimgekehrten Häftlings aus dem Konzentrationslager. Möglicherweise hatte Erich Kästner dem schlicht nichts mehr hinzuzufügen.

Erich Kästner: "Das Blaue Buch"
Geheimes Kriegstagebuch 1941-1945
Herausgegeben von Sven Hanuschek, Ulrich von Bülow und Silke Becker
Übertragung aus der Gabelsberg’schen Kurzschrift von Herbert Tauer
Atrium Verlag, 405 Seiten, 32 Euro

Mehr zum Thema