Éric Vuillard: "14. Juli"

Die Namenlosen, die Schafott und Geschichtsbüchern entronnen sind

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Coder von Eric Vuillards Buch "14. Juli" (Matthes & Seitz) , im Hintergrund ein historischer Stich aus dem Buch denkwürdiger Frauen, Verlag Otto Spamer, 1877, der den Sturm der Bastille zeigt.
Éric Vuillards Buch "14. Juli": Menschen, die wissen wollen, wer sie sind und was sie wert sind. © Cover: Matthes & Seitz / Hintergrund: Historischer Stich. Foto H.-D. Falkenstein
Von Sigrid Brinkmann · 30.03.2019
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Eric Vuillard erzählt die (Vor-)Geschichte der Französischen Revolution aus Sicht der Namenlosen mit Sinn fürs Detail. Tempo- und wortreich lässt er so die stickige Juli-Hitze fühlen und die Unruhe, die Paris durchzog. Ein mitreißendes Buch.
Aus der Perspektive der namenlos gebliebene Menge hungernder Franzosen, die am 14. Juli 1789 schließlich die Bastille erstürmten, schildert Éric Vuillard Protestzüge und Plünderungen, die Sommerhitze und die Unruhe, welche die Pariser im Juli auch nachts auf die Straße trieb.
Eine Menge formte sich allmählich zum Volk und zerstreute sich nach der Erstürmung der verhassten Festung wieder in den Gassen. Vuillard bewundert diesen Instinkt – starben doch viele der namhaften Aufständischen später unter der Guillotine.

Begeisterung für das Kleine

Éric Vuillard hat Memoiren gelesen, Zeugenberichte gesichtet, Protokolle analysiert und erkannt, dass es "den echten Stein von Rosette, mit dem man überall in der Zeit zuhause sein kann", nicht gibt. Diese Einsicht wiederum gab ihm die Freiheit, manche Erklärung grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.
Salopp notiert Vuillard: "Die Ludwigs, egal welcher Nummer, hatten ihre Hand unter zu viele Röcke geschoben!" und "Oh! Ich weiß, man hat mir gesagt (...), was das eigentliche Loch in der Staatskasse, den absoluten Tiefstand unserer Schulden verursacht habe: die Teilnahme Frankreichs am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Damit sei alles ins Kippen gekommen. Ich glaube kein Wort davon."
Vuillard ist fasziniert von kleinen Gesten und unbedeutend scheinenden Handlungen, in denen sich für ihn die großen Katastrophen der Geschichte ankündigen. Leichthin hat er in seinen schmalen Büchern "Traurigkeit der Erde", "Ballade vom Abendland" oder "Kongo" gängige europäische Bilder über die Drahtzieher des Ersten Weltkriegs, die Kolonisierung Lateinamerikas oder des Kongo dekonstruiert. Seine mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Erzählung "Die Tagesordnung" über Hitlers Geheimtreffen mit 27 Großindustriellen kann man als Politsatire lesen. Der Vorwurf, er nutze die Geschichte lediglich als Steinbruch, zieht nicht.

Erzählung aus der Warte der Namenlosen

In seinem Buch "14. Juli" erzählt Vuillard die Ereignisse der vorrevolutionären Wochen und Tage konsequent aus der Warte der Namenlosen. Mal einfühlsam, mal rau im Ausdruck, erspürt er die Verzweiflung und den Wagemut von Menschen, die endlich wissen wollen, wer sie sind und was sie wert sind.
Seinen Anfang nimmt der Aufstand für ihn am 28. April 1789. Etwa 30.000 unbewaffnete Menschen verwüsteten das luxuriöse Anwesen eines Unternehmers. Wenige Tage zuvor war der weltweit erste Aufstieg einer Montgolfière mit zwei Passagieren gelungen.
Es war eine Sternstunde, doch der Fabrikant, der das Papier für den Ballon herstellen ließ, kündigte umgehend Lohnkürzungen an. Nun wollten die Hungernden wissen, "was eine so riesige Menge ausrichten kann". Am Abend stapelten sich Leichen in Gärten, auf Straßen, auf Mistkarren.

"Was ist das, eine Menge?"

"Was ist das, eine Menge?", fragt der Autor. Eine Menge, die sich etwas später als ein Volk begreifen sollte – auf das geschossen wurde. Vuillard hat in der Tombe Issoire ausgestellte Totenscheine gelesen.
Um den Protestierenden und Aufrührern wenigstens eine Spur Individualität zu verleihen, beschreibt er die Haare und Gesichtszüge der Leichen, die Farbe ihrer wollenen Kleidung und ihre furchtbaren Verletzungen. Aufständische wie Soldaten, Tagelöhner wie Beamte und Generäle waren selten älter als 25 Jahre: "Frankreich war damals ein junges, ein unglaublich junges Land." Und es war unbewaffnet.
Zu den kuriosen Vorgängen, die Vuillard schildert, gehört die Plünderung des größten Pariser Pfandhauses, wo nichts als "Pistolen von Methusalem" lagerten, und die Zweckentfremdung von Theaterrequisiten zu Schlagstöcken. Alles konnte der Verteidigung gegen jene dienen, die auf Hungernde schossen.

Wort- und temporeich

Das von Nicola Denis wunderbar übersetzte mitreißende Buch "14. Juli" zieht Kraft aus dem Erzähltempo, aus Vuillards Wortreichtum und seiner klaren Perspektive. Er lässt uns die stickige Juli-Hitze fühlen und die Unruhe, die die Pariser durch die gedrängt vollen Straßen trieb.
In der Nacht zum 14. Juli, so der Autor, fand niemand Schlaf. "Die Schreie spielten ihre Rolle. Die Flüche spielten ihre Rolle. Es war ein großer Krieg der Gesten und Wörter". Und der körperlichen Kraft. Es gab den Mann, der am 14. Juli die letzte Zugbrücke der Bastille brach. Er war Stellmacher und hieß Louis Tournay. "Sein Heldenepos dauerte nur wenige Minuten."
Der Erzähler bewundert den vorausschauenden Instinkt des von seiner Kraft berauschten Volkes. Nach der Erstürmung flohen die "Sieger der Bastille" in die Gassen. Warum sollten sie dem Befehlshaber der Bürgermiliz ihre Identität preisgeben? Die Geschichte bestätigte die Richtigkeit dieses Instinkts. Im Schutz der anonymen Menge entronnen die Aufständischen "dem Schafott wie den Geschichtsbüchern."

Éric Vuillard: "14. Juli". Erzählung
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019
136 Seiten, 18 Euro

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