Dienstag, 19. März 2024

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Von Stettin nach Neu-Stettin
Entdeckungen in der Pommerschen Seenplatte

Eine abwechslungsreiche Natur, zahllose Seen: das ist die westpommersche Seenplatte zwischen Stettin und Neu-Stettin in Polen. Erkunden lässt sich diese Region ganz einfach - immer der Nationalstraße 20 entlang, durch Alleen gesäumt von Buchen, Birken und Linden-Buchenmischwäldern.

Von Joachim Dresdner | 16.08.2015
    An einem Frühlingstag machen sich, alles in allem, 35 Leute samt Busfahrer und Reisebegleiter Michal Faligowski auf die Reise. Landwirte, Imker, Touristiker und Kommunalpolitiker, eingeladen von der Europaregion Pomerania e. V. Wir werden eine Gegend kennenlernen, in der Milch und Honig fließen. Erst einmal umfährt der Bus den Stadtrand von Stettin. Stettin, das Herz der Region, wie es der Botschafter der Republik Polen in Berlin, Jerzy Marganski, bei einem Kamingespräch beschrieben hatte: "Stettin hat gute Chancen in den nächsten Jahren zu einem Zentrum für die gesamte Region zu werden, ohne Rücksicht auf die Grenze, die dort noch formell besteht. Also, die ganze Euroregion Pommerania, glaube ich, wird davon profitieren, dass Stettin bestimmt mehr Gewicht bekommt."
    Stettin und Neu-Stettin verbindet die Nationalstraße 20. Sie verläuft nahezu parallel zur pommerschen Ostseeküste, etwa 80 Kilometer im Hinterland. Das Frühjahr legt einen gelb-grünen Löwenzahnteppich vor dem Waldessaum längs der Straße aus. Unsere Bustour durch die westpommersche Seenplatte führt am sogenannten Baltischen Höhenrücken entlang. Jerzy Marganski, der polnische Botschafter in Berlin, kennt die Gegend gut. Für ihn ist sie bequem zu erreichen: "Ich bin schon einige Male dort gewesen. Von Berlin her ist es viel näher als von Warschau. Das ist eine wunderschöne Landschaft, die, glaube ich, nicht nur von den Deutschen, sondern auch von den Polen nicht entdeckt wurde. Dort muss auch Infrastruktur ausgebaut werden, was jetzt geschieht."
    Hinter Dramburg, Drwaske Pomorskie, biegen wir zu einem Abstecher von der 20 ab, nach Lubieszewo, Güntershagen. Reiseleiter Michal Faligowski: "Wir befinden uns jetzt in der Pommerschen Seenplatte. Das ist jetzt der schönste Teil, der Lubiesee. Hier gibt’s ungefähr tausend Seen."
    Fischzucht und Bienen
    Der Lubiesee sei nicht so groß wie die Müritz in Mecklenburg, wäre aber genauso schön, vergleicht Michal, bevor uns Małgorzata Kozłowska, die Betreiberin der touristischen Fischzuchtanlage, begrüßt. "Ryby Lubie" ist ein Wortspiel und heißt übersetzt wahlweise "Ich mag Lubie" oder "Ich mag Fische". Wir stehen auf einem Wiesenstreifen am Rande von fünf rechteckigen Zuchtteichen, dahinter streckt sich der Lubiesee: "In den Teichen befinden sich größere und kleinere Fische, die werden sortiert, je nach Alter und Größe. Hinter diesen Bäumen befindet sich schon der Lubiesee. Man kann bei uns ein Boot, oder Paddelboot leihen und dann auch dort die Fische fangen." – "Und der größte Fang?" – "24 Kilo Karpfen! So einen großen Karpfen kann man schon nicht mehr essen, ist zu groß."
    Aale, Stör, Forellen und Zwergmaränen (ein Lachsfisch), Ernte: rund zehn Tonnen Fisch im Jahr, nahezu alles für den eigenen Betrieb. Zum Beweis reicht uns Małgorzata Fischbaguettes mit geräucherter Forelle aus eigener Zucht.
    "Wie man mit Überlegung auch für sich irgendwas machen kann, haben wir ja gesehen mit den Fischteichen. War interessant, nicht?" sagt Arno Karp, der Bürgermeister von Jarmen in Vorpommern, bevor auch er in den Bus steigt und es weitergeht auf der Straße Nr. 20 durch die Alleen gesäumt von Buchen, Birken und Linden-Buchenmischwäldern, Ahorn und wuchtigen Kastanien – wo gibt’s das noch? Michal stimmt uns auf das nächste Städtchen ein, Czaplinek: auf Deutsch: Tempelburg. Es liegt an einem wunderschönen See, dem größten der Pommerschen Seenplatte.
    Früher einer der größten Stützpunkte der Sowjetarmee
    Nahe der Nationalstraße 20 gibt’s leckeren Drahim-Honig, von gesunden Bienen, die Bienenhäuser oder –kästen anfliegen. Das müssen wir sehen, schließlich sind wir Deutsche Weltmeister im Honigverbrauch!
    "Ich begrüße sie alle hier bei uns, bei den Bienen. Ich versuche, ihnen das Leben von so einer Bienenfamilie näher zu bringen." Die Fujarskis sind ein Familienunternehmen. Sie verfügen über 600 Bienenfamilien. Konrad ist für die Arbeit mit den Bienen verantwortlich, seine Frau ist für die Vermarktung zuständig, der Bruder beschäftigt sich mit dem Verkauf. Jeder hat hier eine Aufgabe, so wie bei der Bienenfamilie!
    Die Bienen summen im Kasten, sammeln Raps-, Linde und Heidekrautblüten: "Wenn sie zum Beispiel süßen Kaffee trinken möchten, empfehle ich ihnen Buchweizenhonig. Das stinkt aber so!"
    Zwischen Czaplinkek und Szczecinekrollen wir auf der Nationalstraße 20 direkt an der Gemeinde Borne Sulinowo, Groß Born vorbei. Bis 1993 verzeichneten die Landkarten hier Wald, dabei war das einst großdeutsches Manövergebiet, dann einer der größten Stützpunkte der Sowjetarmee in Polen, erklärt Michal: "Die Sowjets haben in Polen 300.000 Soldaten gehabt und auf dem Gebiet der Republik gab es jede Menge Orte, die direkt den Sowjets untergeordnet waren. Groß Born ist eigentlich die einzige Stadt gewesen. Na also, da haben schon 10.000 Menschen gewohnt, nicht nur Soldaten, sondern auch die Familien von den Offizieren."
    Pommerland war immer landwirtschaftliches Gebiet
    1992 fuhren die letzten russischen Soldaten heimwärts. Nun locken Wälder und Seen Touristen an. Auf der 20 durchqueren wir westpommersche Seenplatte und biegen jetzt zu einem alten pommerschen Gutsort, nach Juchowo ab: "Dzen Dobre. Herzlich willkommen in Juchowo, in unserem biodynamischen, landwirtschaftlichen Betrieb. Ich heiße Danuta Salagan. Ich bin hier für pädagogische Projekte zuständig. Pädagogik am Bauernhof für Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene. Es kommt gleich Sebastiaan Huisman, er ist Vorsitzender unserer Stiftung. Also, Pommerland war immer landwirtschaftliches Gebiet."
    Die neue Erfolgsgeschichte in Juchowo begann nach der Wende, erzählt Danuta, als die Tochter des letzten deutschen Bewirtschafters vor 1945 enteignetes Land zurückkaufte. Ihre Arbeit führt seit gut 15 Jahren eine gemeinnützige Stiftung fort. Damals waren die Gebäude kaputt, die Böden unfruchtbar und die Angestellten kaum motiviert. Heute: 110 Mitarbeiter, steigende Bodenfruchtbarkeit, helle und breite Kuhställe, in zwei Hallen trocknet Heu, an einem Hügel werden Kräuter angebaut. Seit elf Jahren hat Sebastiaan Huisman das Sagen. Der schlanke, hochgewachsene Holländer ist studierter Landwirt: "Ich hatte einen Nachbarn, der hatte einen kleinen biologisch-dynamischen Betrieb gehabt und da habe ich als Junge immer gearbeitet, weil ich natürlich 'Knete' gebraucht habe zum Surfen und so bin ich dann da rein gerollt."
    Noch reichen die Erträge aus der Landwirtschaft nicht aus, um den Betrieb finanziell zu stabilisieren. "Wir investieren jährlich ungefähr einen Betrag von 250.000 Euro in den Aufbau der Bodenfruchtbarkeit. Wenn man diesen Betrieb in Deutschland hätte, würde man ungefähr 350,- Euro pro Hektar mehr an Prämie bekommen. - Okay, dann gehen wir los. - Die Landprämien der EU sind in Polen niedriger als in Deutschland."
    Biodynamische Landwirtschaft
    Wir machen uns auf die Besichtigungstour, stiefeln leicht bergan. Mit blauen Plastiksöckchen über unseren Schuhen betreten wir den Gang des Melkstalles: "Wir haben kaum Euterentzündungen, haben ein Melksystem, das orientiert sich am saugenden Kalb, ist ein sehr schonendes Melken. Laufen wir bis zum Ende, schauen wir nochmal den Mist an und dann durch den Jungviehstall zurück."
    Nebenan Kälber in ihren Boxen, Platz, Licht und viel trockenes Stroh, auch für die Kühe und Jungbullen. Joachim Hamann aus unserer Besuchergruppe: "Über 20 Jahre war ich im Kuhstall Melkermeister. Einmal hier diese Aufstallung mit Stroh, das ist ein ganz anderes Klima, wenn man in den Stall reinkommt, das atmet doch ganz anders!"
    "Es ist immer so, wenn man sich in diese Kuh versetzt, man muss immer ein bisschen Kuh sein, um eine Kuh zu verstehen und man muss immer Boden sein, um Ackerbauer zu sein." Mit einfachen Worten erklärt Huisman was biodynamisches Wirtschaften heißt. Und Danuta wirft ein, dass hier eine besondere Milch produziert wird, die "Heumilch": "Das erinnert mich an meine Kindheit, ja, wo die Bauern selbstverständlich ihre Kühe entweder im Sommer auf der Weide hatten, oder im Winter mit Heu gefüttert hatten, ja, und deswegen hat unsere Milch den alten Geschmack, den wirklichen, authentischen Milchgeschmack. Milch verkaufen wir auch nach Deutschland."
    Stiftung sichert das Dorfprojekt
    Und sie bringen Kompost als Naturdünger auf die ausgetrockneten Böden, pflanzen Hecken, leiten Wasser zurück in die Landschaft, um Seen anzulegen. In zwei hohen Hallen trocknet Heu. Vom Korn zum Brot, von der Kuh zur Milch. Kinder aus Szczecinek lernen diese Prozesse in Juchowo kennen. Es gibt Landpraktika und geschützte Arbeit für Menschen mit Behinderung aus der Umgebung: "Die arbeiten auch mit teilweise im Kälberstall, vor allem in der Hofgestaltung und dann im Kräutergarten in dem geschützten Arbeitsraum und in den Werkstätten." Die Stiftung garantiert, dass dieses Land nicht zum Spekulationsobjekt werden kann, dass dieses Dorfprojekt weiter besteht. Der internationale Betrieb wächst mit jedem Tag.
    Stefan Haak und Udo Hirschfeld aus Altentreptow und Löcknitz im Nordosten der mecklenburgischen Seenplatte: "Manche Kuppen waren wirklich sehr trocken, da wächst nicht mal richtig Gras. Aber die scheinen ja hier eine Möglichkeit gefunden zu haben auf dieser Farm mit dem Kompost die Erde so aufzuarbeiten, dass es sich anscheinend lohnt. Der Landwirtschaftsbetrieb heute ist schon etwas Besonderes: Ich denke mal, das findet man nicht allzu oft, weder in Deutschland noch in Polen in so ’ner Größenordnung von fast 10.000 Hektar, 7.000 Hektar Wiese und 3.000 Hektar Acker. Ohne Kunstdünger, ohne Pflanzenschutz auszukommen ist ‘ne echte Herausforderung!"
    Weiter geht’s! VonStettin nach Neu-Stettinsind esungefähr 150 Kilometer, auf der Nationalstraße 20. Ich bitte Michal die beiden Städte miteinander zu vergleichen. Also: was ist gleich, was ist anders? "Alles ist anders! Gleich ist nur der Name, weil, das Muster für die Stadt Neustettin ist Stettin gewesen. Hier haben auch die pommerschen Fürsten gewohnt, aber sonst gibt es nur Unterschiede: Stettin befindet sich an der Oder, Neustettin an einem See. Stettin ist groß, ist eine richtige Metropole, fast eine halbe Million Einwohner, inklusive Speckgürtel, und hier leben bloß 40.000 Menschen. Und von der anderen Seite, nach Neustettin kommen sehr viele Stettiner. Das ist für die Stadt Stettin so ein Erholungsgebiet."
    Ein Park zwischen See und Uferpromenade
    Umgeben von drei Seen. Der Größte ist der Streitzigsee. Hier dreht die "Bayern" als Fähre ihre Runden. Das Schiff wurde 1923 am Starnberger See gebaut. Die Deutschlehrerin Małgorzata Kusmarbegleitet uns. "Vom Wasser aus sehen wir deutlich: Das Seeufer bildet dort, wo sich die Stadtgründer vor gut 700 Jahren ansiedelten, nahezu einen rechten Winkel. Hinten sehen wir ein bisschen von dem Stadtpanorama. Also, vor allem den Turm der Mariakirche. Früher war das eine evangelische Kirche, die Nikolaikirche hieß und also an der rechten Seite vom Kirchturm ist das Schloss, das Schloss der pommerschen Fürsten. Da sehen sie hohe Schornsteine von der größten Fabrik in Szczecinek, da ist eine Spanplattenfabrik, der Besitzer ist ein Österreicher. Wir fahren jetzt Richtung sogenannte Mauseinsel, das auch ein Lieblingsziel der Szczecineker Einwohner ist. Sie sehen, da stehen zahlreiche Fahrräder und das Café ist schon auf."
    Im Hintergrund der gut erhaltene Bismarckturm. Um den See herum führt ein Rad- und Fußweg, 16 Kilometer lang. Das Schloss, die einstige Fürstenburg, steht auf einer kleinen Halbinsel. Im Seitengebäude entstehen ein ökologisches Bildungszentrum und ein großes Aquarium, berichtet Małgorzata: "Sechs Universitäten wollen hier mitwirken und da kommen Spezialisten, also in erster Linie um Revitalisierung des Sees, ja, da haben wir große Erfolge, ist was Schönes und da wollen wir anderen auch mithelfen."
    Zwischen See und Stadt gibt es keine Uferpromenade, aber einen wunderschönen, vor über 110 Jahren angelegten Park: "Es gab schon Rosen auch in der deutschen Zeit und hier links sehen sie einen Stein. Da war vor zwei Jahren unser Präsident hier. Die Stadt erhielt den Preis im Wettbewerb für die Revitalisierung der Grünfläche, so wie es früher war. Da sind wir besonders stolz drauf."
    Ein Miteinander von Natur und Mensch
    Vor dem backsteinroten Rathaus mit seinem eckigen Turm biegen wir in die ehemalige Königsstraße, die beliebte Fußgängerzone ein und bummeln, vorbei an renovierten Bürgerhäusern und Geschäften. Die Mitreisenden finden, eine herausgeputzte Stadt in seenreicher Landschaft: "Szczecinek hat sich zu einer Stadt entwickelt, die sehr aufgeschlossen gegenüber Jugendlichen und Kindern ist. Es gibt sehr viele sportliche Einrichtungen bis hin zu Kinderspielplätzen. Es ist schönes, angenehmes Flanieren möglich. Und dann sind wir da auch so die Straßen und der Park, ist ja alles jetzt wunderbar, nicht?"
    "Wir haben Fische, Kühe und Bienen gesehen, haben gesehen, was zu Wasser, zu Land und in der Luft eine gesunde Landschaft ausmachen kann, in der das Miteinander von Natur und Mensch die westpommersche Seenplatte lebens- und liebenswert macht", das nehmen Joachim Hamann und Stefan Haak mit: "Hügelig, viel Wald und so ein gesunde Landwirtschaft, der Boden ist nicht so ertragreich da, aber die Landwirtschaft ist schön da. Wenn ich in die Uckermark komme, die riesigen Flächen da, also wo man von einem Dorf zum anderen sehen kann, alles eben. Es ist bestimmt wunderschön hier Rad zu fahren. Es gibt wunderschöne Kleinstädte und die sind sehr herrlich gemacht, mit vielen touristischen Angeboten."
    Und das Fazit von Udo Hirschfeld von der Europaregion Pomerania e. V.: "Es sind Kontakte entstanden zu unseren polnischen Nachbarn, denke auch zu dem Imker und zu dem heutigen Landwirtschaftsbetrieb, hab' ich gehört, dass Interessenten da sind, die Kontakte aufnehmen wollen. Ich denke schon, dass das was gebracht hat."
    Anmerkung: Bei der Entstehung dieses Beitrages wurden Transportkosten übernommen von der Kommunalgemeinschaft Europaregion Pomerania e.V.