Erfolgsroman "I Love Dick"

    "Frauen spielten in der Literatur nur eine Nebenrolle"

    Hat US-Autorin Chris Kraus schon 2002 für sich entdeckt: die Übersetzerin Stephanie Fezer.
    Hat US-Autorin Chris Kraus schon 2002 für sich entdeckt: die Übersetzerin Stephanie Fezer. © Privat
    05.09.2018
    Die US-Autorin Chris Kraus landete mit ihrem Roman "I Love Dick" einen Bestseller - 20 Jahre nach der Veröffentlichung. Zur Ursendung eines Features über das Buch erklärt Übersetzerin Stephanie Fezer, was dessen Reiz ausmacht.
    Deutschlandfunk Kultur: Frau Fezer, die US-Autorin Chris Kraus wurde erst 20 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung einem breiten Publikum bekannt. Sie haben sie schon recht früh für sich entdeckt. Wie kam es dazu?
    Stephanie Fezer: Durch einen Zufall. Ich habe 2002 als Journalistin den deutschen Regisseur Chris Kraus interviewt, zu seinem Debütroman und gleichzeitig seinem Debütfilm "Scherbentanz". Während der Recherche habe ich erfahren, dass es auch eine gleichnamige US-Autorin namens Chris Kraus gibt.
    Deutschlandfunk Kultur: Eine Verwechslung, die Ihr literarisches Interesse prägte.
    Fezer: Ja. Ich habe begonnen, mich für sie zu interessieren, habe mir ihr erstes Buch gekauft. Als ich "I Love Dick" las, dachte ich sofort: Wow, was für ein starker Stoff!
    Deutschlandfunk Kultur: "I Love Dick" ist die persönliche Geschichte von Chris Kraus, die sich in einen Kollegen ihres Mannes Sylvère verliebt. Beide formulieren Briefe an Dick, senden sie aber nicht ab. Die Liebe von Chris Kraus zu Dick bleibt unerwidert. Obwohl das Buch bereits 1997 erschien, ist es erst heute ein Bestseller. Warum?
    Fezer: Der Literaturbetrieb ist manchmal rätselhaft. Welches Buch entdeckt wird und welches nicht – auch das hängt oft vom Zufall ab. Die Bücher von Chris Kraus werden ja vor allem von jungen Frauen gelesen. Die Verlagsbranche in den 1990er-Jahren war aber von Männern dominiert, die konnten damit nichts anfangen.
    Deutschlandfunk Kultur: Das hat sich geändert?
    Fezer: Na ja, Männer entscheiden meist immer noch, was gedruckt wird. Die Welt ist aber diverser geworden, der Feminismus hat einen Aufschwung erlebt. In den Feuilletons arbeiten mehr feministische Redakteurinnen, Zeitschriften wie das Missy Magazin oder Literaturblogs beschäftigen sich stärker mit Literatur und den spezifischen Sichtweisen von Frauen. Auch die Verlage selbst haben sich dadurch verändert.
    Deutschlandfunk Kultur: Chris Kraus’ Gesamtwerk wird bisweilen als feministisches Manifest beschrieben. Was macht es feministisch?
    Fezer: In allen vier Romanen ist Chris Kraus selbst die Protagonistin. Sie kämpft sich aus ganz zähen Bindungen zu den Männern heraus. Dabei beschreibt sie sich nicht als sympathisch, charmant oder schön, wie man es von weiblichen Figuren in der klassischen Literatur gewöhnt ist. Sie seziert stattdessen ihr Innenleben, ihre Gefühle, aber auch ihre intellektuelle Verfassung. Und sie nimmt in Kauf, dass sie sich vor ihren Lesern bloßstellt.
    Deutschlandfunk Kultur: Eine Antiheldin scheitert ja zwangsläufig. Woran scheitert Chris Kraus?
    Fezer: In "I Love Dick" scheitert sie sowohl an ihrer Liebe zu Dick, als auch an ihrer Beziehung zu Sylvère. Aber sie kämpft sich gleichzeitig mit ihrem Intellekt nach oben, raus aus dem Sumpf. Sie macht sich frei von der Ergebenheit an einen Mann. Chris Kraus lebt zwischen den Extremen. Sie gibt sich sehr verletzlich, gleichzeitig greift sie auch an. Gegen Ende des Buchs findet sie immer mehr ihre eigene Stimme, ihre Gedanken werden weiter, auch assoziativer. Und Chris Kraus selbst, als Autorin und als reale Person, wird immer sichtbarer.
    Deutschlandfunk Kultur: Chris Kraus geht mit ihrer eigenen Biografie recht schonungslos um. Sie wollte Schauspielerin werden, dafür fehlte ihr das Talent. Als Filmemacherin wurde sie nicht ernst genommen. Und auch als Schriftstellerin hatte sie einen schweren Start. Lange plagten sie Geldsorgen. Auch in der Literatur gibt es nur wenige solcher weiblichen Antihelden. Warum?
    Fezer: Frauen spielten in der Literatur lange nur eine Nebenrolle. Wenn man jetzt an Gretchen und Faust denkt oder an Ophelia und Hamlet, da werden die Frauen gebraucht, damit die Männer umso mehr strahlen können. Ophelia kommt nach ihrer missglückten Schwärmerei zu Hamlet zu Tode. Und auch im Faust geht Gretchen im Laufe der Erzählung unter. Es hat lange gedauert, bis starke Frauenfiguren in der Literatur akzeptiert werden.
    Deutschlandfunk Kultur: Seit wann gibt es weibliche Antihelden wie bei Chris Kraus?
    Fezer: Schwierig zu sagen – Antiheldinnen wie bei Chris Kraus, weibliche Protagonistinnen, die aus lauter Antagonismen bestehen, sehe ich in der klassischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts eigentlich gar nicht. Ich glaube, die findet man erst später, vielleicht ab den frauenbewegten 70er-Jahren.
    Deutschlandfunk Kultur: Mittlerweile ist selbst Amazon aufgesprungen und hat nach der Vorlage von "I Love Dick" eine erfolgreiche TV-Serie gedreht.
    Fezer: Das ist der tollen Produzentin Jill Soloway zu verdanken. Sie hat das Buch in die Hände bekommen, eine befreundete Dramatikerin hat sie darauf aufmerksam gemacht. Sie hat es gelesen – und es hat sie gepackt. Wieder so ein Zufall.
    Deutschlandfunk Kultur: Und eine weitere Frau, die sich für Chris Kraus eingesetzt hat.
    Fezer: Jill Soloway versucht seit langem, Frauen im Kulturbetrieb zu fördern. In den USA – und natürlich auuch anderswo – gibt es mittlerweile ein Netzwerk von Künstlerinnen und Intellektuellen, die sich gegen die Seilschaften der Männer durchsetzen wollen. Auch die Kanadierin Sheila Heti spielt darin eine Rolle. Sie und Chris Kraus kennen sich seit vielen Jahren. Dann wurde Hetis Debüt "How Should a Person Be" hat einige Ähnlichkeiten mit Kraus‘ Romanen.
    Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir zum Schluss einen Blick in die Zukunft werfen: Gibt es Nachahmer, die von Chris Kraus inspiriert sjnd?
    Fezer: Die Berliner Autorin Helene Hegemann oder Charlotte Roche sind auch starke, weibliche Stimmen in der Gegenwartsliteratur. Aber ich vermute, dass deren Bücher viele Männer nicht gern lesen. Die intime Selbstbeschreibung in den Romanen ist ja auch schmerzhaft. Außerdem steht dagegen ein jahrhundertealtes Bild von Frauen in der Literatur, gegen das es ziemlich schwer ist anzustinken.
    Das Gespräch führte Philipp Eins
    Stephanie Fezer lebt als freie Autorin und Redakteurin in Berlin. Sie studierte deutsche und englische Literaturwissenschaften in Freiburg, Köln und Berlin. 2015 erschien ihre Übersetzung des Romans "Torpor" von Chris Kraus im b_books Verlag.
    Mehr zum Thema