Erfolgsgeschichte in Pakistan

Von Moritz Behrendt und Christoph Dreyer · 29.06.2011
Noch vor nicht allzu langer Zeit galt das idyllische Swat-Tal als der geduldete Rückzugsort für die Taliban. Nachdem die pakistanische Armee das einstige Urlaubsgebiet wieder zurückerobert hat, soll die Verwaltung nun allmählich wieder in zivile Hände überführt werden. Dennoch ist unübersehbar, wie unsicher die Lage weiterhin ist.
An der Wand des Klassenzimmers hängt viel Selbstgebasteltes. Orangene Fische aus Pappe, daneben Blumen in den verschiedensten Farben. Oben drüber ein großes Schild: "welcome". Mädchen und Jungen werden hier in der dritten Klasse gemeinsam unterrichtet. Sie alle tragen eine schlichte schwarz-weiße Schuluniform - bei den Mädchen gehört dazu auch ein weißes Kopftuch. Schulalltag in Mingora, der größten Stadt im Swat-Tal rund drei Autostunden nordwestlich der Hauptstadt Islamabad.

Khan: "Bildung ist das Einzige, was uns hier im Swat-Tal retten kann. Denn ich bin überzeugt: Der Mangel an Bildung hat auf jeden Fall zur Talibanisierung beigetragen. Die Armen können es sich nicht leisten zur Schule zu gehen. Sie haben kein Geld für die Uniformen oder die Bücher. Um die Schulen wieder aufzubauen, brauchen wir jetzt schnell internationale Hilfe - viel Geld muss in Institutionen wie diese gesteckt werden, um den Armen in Swat zu helfen."

Ehsanullah Khan ist ein rüstiger Mann in den Siebzigern und eine elegante Erscheinung, mit seiner runden Intellektuellenbrille und dem roten Einstecktuch in der sandfarbenen Filzweste. Beim Gang über den Schulhof zeigt das Mitglied des Verwaltungsrats der Schule immer wieder in die vollbesetzten Klassenzimmer.

Noch vor zwei Jahren wäre hier an der Khpal-Kor-Schule an normalen Unterricht nicht zu denken gewesen: Damals tobte in Mingora die Entscheidungsschlacht zwischen der pakistanischen Armee und den Anhängern des radikalen Predigers Maulana Fazlullah.
Fazlullah - ein enger Verbündeter der afghanischen Taliban und der Terror-Organisation Al-Kaida - hatte seit 2007 in Swat eine Gewaltherrschaft errichtet, um seine Vorstellung des islamischen Rechts durchzusetzen. Seine Anhänger überrannten Polizeiwachen, errichteten Scharia-Gerichte und bauten eine Art Parallelverwaltung auf. Als im Mai 2009 schließlich 30.000 Soldaten einmarschierten, um die Islamisten zu vertreiben, lag die Khpal-Kor-Schule mitten im Kampfgebiet - eingekesselt zwischen einer Kaserne und Häusern, in denen sich bewaffnete Extremisten verschanzt hatten.

Die Schule ist Teil eines Waisenhauses für Jungen – sie bietet aber auch anderen Kindern und Jugendlichen aus der Umgebung kostenlosen Unterricht. Stolz redet Khan über die Zukunftspläne: Demnächst soll eine Unterkunft für Mädchen entstehen. Eine Videopräsentation zeigt Entwürfe für ein hochmodernes, lichtdurchflutetes Gebäude.

Für die Finanzierung hofft Khan auf Geld aus dem Ausland und auf Unterstützung von der Armee. Wenn es aber darum geht, was die zivilen Politiker seit dem Sturz der Taliban geleistet haben, dann winkt der sonst so freundliche ältere Herr ab und seine Augen verengen sich.

Khan: "Anderthalb, nein schon zwei Jahre sind vergangen und die Regierung, damit meine ich sowohl die Bundes- als auch die Provinzverwaltung, hat noch keine einzige Schule gebaut."

Seit 2005 hatte der radikale Maulana Fazlullah im Swat-Tal zunehmend an Einfluss gewonnen. Ausgerechnet in Swat, das nicht zu den rückständigen und schwer regierbaren Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan gehört, sondern ein beliebtes Feriengebiet ist - gerade einmal 150 Kilometer von Islamabad entfernt. Zuerst mit Dienstleistungen für Bedürftige, dann mit einem illegalen Radiosender und schließlich mit offener Gewalt verbreitete der Prediger seine reaktionäre und antiwestliche Lehre unter den rund zwei Millionen Einwohnern: Frauen sollten zu Hause bleiben, Mädchen nicht zur Schule gehen. Musik-Kassetten und Videos wurden verbrannt, angebliche Kriminelle öffentlich ausgepeitscht.

In Mingora erinnert heute auf den ersten Blick nichts mehr an diese Zeit. Auf den Straßen der 200.000-Einwohner-Stadt herrscht reges Treiben. Männer stehen in Grüppchen am Straßenrand, plaudern, rauchen und warten auf ein Sammeltaxi.

In einem Restaurant sitzt Zia-ud-Din Yusufzai, ein schlanker Mann Anfang 40, der sich durch Schnurrbart und moderne Kleidung als westlich orientierter Pakistani zu erkennen gibt. Er betreibt eine Privatschule für rund tausend Mädchen und Jungen und hielt sie trotz aller Drohungen offen, so lange er konnte. Er gab reihenweise Interviews in pakistanischen und ausländischen Medien und forderte, die Anführer der Taliban müssten festgenommen oder getötet werden. Damit zog er den Zorn der Islamisten auf sich.

Yusufzai: "In ihrem Radiosender nannten sie meinen Namen und gaben mir zu verstehen: Du muckst auf, also wirst Du die Quittung bekommen. Danach konnten meine Frau und meine Kinder nicht mehr schlafen. Denn sie hatten Angst, dass jemand kommen und mich abholen würde. Wenn mich die Taliban zu Hause angetroffen hätten, dann hätten sie mich vielleicht vor den Augen meiner Kinder umgebracht. Um ihnen eine solche Situation zu ersparen, übernachtete ich eine Zeitlang bei Freunden und kam erst morgens wieder nach Hause."

Jahrelang hatten die Taliban ohne großen Widerspruch ihre Herrschaft ausweiten können. Doch der engagierte Schulleiter Yusufzai war schon damals überzeugt, dass die meisten Bewohner von Swat die Taliban nur aus Angst gewähren ließen und nicht aus Überzeugung unterstützten. Und er beschloss, etwas zu unternehmen - zusammen mit Dutzenden anderen Menschen: Politiker, Stammesführer, Vertreter wichtiger Clans, aber auch einfache Bürger wie er selbst beriefen eine Dschirga ein, eine Ältestenversammlung, die bei den Paschtunen, der wichtigsten Volksgruppe im Nordwesten Pakistans, traditionell zur Beilegung von Streitigkeiten dient.

Yusufzai: "In Mingora - also mitten im Zentrum von Swat - hielten wir ein großes Treffen ab. Obwohl im halben Tal eine Ausgangssperre galt, schafften es achthundert Menschen zu kommen. Bei dieser Versammlung forderten wir den hiesigen Taliban-Chef Maulana Fazlullah öffentlich heraus und erklärten, dass er die Grundrechte der Einwohner Swats verletze und ein Feind des Tals sei. Die Swat Qaumi Dschirga sprach die Wahrheit aus, und das ist der Beginn zur Lösung jedes Problems - wenn man benennt, worum es eigentlich geht."

Im August 2008 trat dann Pakistans Militärmachthaber Musharraf ab - jener General, der nie den Verdacht abschütteln konnte, dass er insgeheim mit militanten Islamisten paktiere. Sein Nachfolger, Präsident Zardari, und der neue Generalstabschef Kayani distanzierten sich deutlich von extremistischen Gruppen. Dennoch schloss Zardari im Frühjahr 2009 ein Abkommen mit den Taliban zur Durchsetzung der Scharia in Swat - um das Tal zu befrieden, wie er sagte. Doch das Gegenteil war der Fall, einer der Taliban-Anführer, Sufi Mohammed, geißelte vor Tausenden Anhängern Wahlen und Demokratie als unislamisch, womit eine friedliche Einigung in weite Ferne rückte.

Die Folge: Anfang Mai erklärte Ministerpräsident Gilani in einer Fernsehansprache den Taliban von Swat den Krieg. Bis die Armee Ende des Monats Mingora zurückerobert hatte, starben 1200 der Extremisten. Ende Juni 2009 erklärte die Armee Swat für weitgehend Taliban-frei. Bis August kehrten nach UN-Schätzungen etwa anderthalb der 1,9 Millionen Menschen in das Tal zurück, die vor den Kämpfen geflohen waren.

Eine halbe Autostunde flussaufwärts von Mingora nimmt die Zahl der Straßensperren zu. Das Hauptquartier der in Swat stationierten 19. pakistanischen Armeedivision ist in der Nähe – und auch das Zentrum Mishal, übersetzt: Fackel, wie das Symbol der Division.

Ohne Begleiter von der Armee kommt man nicht auf das Gelände. Hier sollen ehemalige Taliban auf die Zeit nach ihrer Freilassung vorbereitet werden. "Deradikalisierung" nennt das die pakistanische Armee:

Mit großen Gesten redet ein weißhaariger Mann auf seine Zuhörer ein - Staatsbürgerkunde für ehemalige Staatsfeinde. In einem Klassenraum sitzen rund 50 Männer mit Vollbart in Häftlingsuniformen. Auf der schwarzen Weste ist bei jedem ein Anstecker mit der pakistanischen Nationalflagge befestigt. Immer wieder fordert der Redner die Ex-Taliban zu kollektiven Bekenntnissen auf.

Lehrer: "Wir versprechen, gute Pakistaner zu sein – wir werden unser Land wieder aufbauen."

"Wir fühlen uns schuldig für das, was wir getan haben. Wir werden der Welt zeigen, dass der Terrorismus bei uns keinen Platz mehr hat."

"Inschallah", so Gott will, antworten die Männer im Chor. Major Waqas Akbar ist verantwortlich für das Zentrum Mishal – der hochgewachsene Armeeoffizier legt Wert darauf, dass hier keine radikalen Kämpfer resozialisiert werden, sondern Mitläufer. Keine Ideologen, sondern leichtgläubige Männer, die von Maulana Fazlullah verführt worden seien. Religiöse Unterweisung sei daher ein zentraler Bestandteil der Deradikalisierung.

Major Akbar: "Wir müssen ihnen beibringen, dass der Dschihad, also der Kampf gegen Ungläubige, wie ihn der Islam vorsieht, verschiedene Formen hat: Man kann auch mit dem Stift einen Krieg führen, mit Worten oder Gedanken. Auch das ist Dschihad. Zu den Waffen zu greifen, ist der allerletzte Schritt – und für den wird die pakistanische Armee bezahlt."

Sher Mohammed war kein Kämpfer. Er hat als Küchengehilfe in einem Taliban-Lager gearbeitet. Jetzt steht der 37-Jährige mit hängenden Schultern und gesenktem, ausdruckslosem Blick in einem Raum im zweiten Stock, sichtlich eingeschüchtert von dem Soldaten neben ihm.

Mohammed: "Während der Herrschaft der Taliban wurden in meinem Dorf alle gezwungen, sich ihnen anzuschließen, sogar die alten Männer. Weil die Islamisten so stark waren, blieb uns nichts anderes übrig, als sie ein Stück weit zu unterstützen. Sonst hatte ich aber nichts mit ihnen zu tun."

Hinter ihm sind auf einem langen Tisch Glühbirnen, Neonröhren und Kabel installiert. Zwei Dutzend Häftlinge hantieren mit Lötkolben und Schraubenziehern, während ein Soldat ihnen Grundzüge der Elektrotechnik erklärt.

Mohammed: "Wenn ich hier herauskomme, will ich meinen Lebensunterhalt durch ehrliche Arbeit verdienen. Und ich werde den Menschen auch sagen, dass wir zusammenstehen müssen – und, dass wir niemals Gruppen helfen dürfen, die sich gegen unsere Gesellschaft stellen."

Es klingt wie aus dem Lehrbuch der Deradikalisierung, wenn Sher Mohammed spricht. Nur bei der Frage, ob er sich freue, bald wieder nach Hause zurückzukehren zu seinen fünf Kindern, da lächelt er. Nach drei Monaten Staatsbürgerkunde, Islamunterricht, psychologischer Betreuung und beruflicher Weiterbildung werden die ehemaligen Taliban entlassen. Damit ist die Deradikalisierung aber noch nicht vorbei, sagt Major Akbar. Zum einen müssen sich die ehemaligen Taliban in regelmäßigen Abständen bei der Polizei oder bei Dorfältesten melden, zum anderen bemühe sich die Armee, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern.

Major Akbar: "Wir haben festgestellt, dass wir ihnen gute Jobs besorgen müssen. Deswegen haben wir hier in der Gegend zahlreiche Arbeitsstellen für Absolventen dieses Programms geschaffen. Außerdem hat die Armee einigen geholfen, Arbeit im Oman zu finden. In diesen Fällen ist die Gefahr sehr gering, dass sich die Männer wieder den Terroristen anschließen."

Die 19. Division sorgt weiterhin für die Sicherheit im Swat-Tal, auch indem sie Polizisten ausbildet. Sie unterstützt Ausbildungszentren für Frauen, baut von den Taliban zerstörte Schulen neu. Und als vergangenes Jahr die verheerende Flut Brücken, Straßen und Strommasten zerstörte, halfen die Soldaten beim Wiederaufbau. Doch auf der anderen Seite gibt es auch Berichte, dass Soldaten in Swat wiederholt ohne jede Rechtsgrundlage Zivilisten und wehrlose Gefangene getötet hätten.

Oberst Tariq Qadir ist Stabschef der im Swat-Tal stationierten Division. Er bestreitet nicht, dass es Übergriffe von Soldaten gegeben hat. Dies seien aber Einzelfälle gewesen.

Oberst Qadir: "Die Armee besteht auch nur aus Menschen. Auch wenn wir stolz darauf sind, eine sehr disziplinierte Armee zu sein, können wir individuelles Fehlverhalten nicht ausschließen. Ja, es kommt vor. Wir nehmen jeden Fall sehr ernst. Immer wenn der Respekt von Personen missachtet wurde, die nichts mit dem Terrorismus zu tun hatten, hat die Armee sehr scharfe Disziplinarstrafen verhängt."

Außerdem, sagt Qadir, würde die Armee nur allzu gerne die Verantwortung an die zivilen Behörden übergeben. Aber noch kommt es immer wieder zu Schießereien mit Grüppchen von Islamisten, die nach Swat zu gelangen versuchen.

Und viele Einwohner fürchten, dass die Verwaltung überfordert sein könnte und die Taliban sich wieder breitmachen, sobald die Armee sich zurückzieht. So ist das Militär in einer angenehmen Position: Es wird von großen Teilen der Bevölkerung als Beschützer und Motor des Wiederaufbaus gesehen. Der engagierte Schulleiter Yusufzai aus Mingora jedoch ist skeptisch. Die Allgegenwärtigkeit des Militärs könne schon bald zum Problem werden.

Yusufzai: "Wenn die Armee allzu lange dominant ist, werden die zivilen Institutionen gelähmt - und die stehen schon jetzt am Rande des Zusammenbruchs. Wir haben in unserem Land mehr als 30 Jahre lang sehr schlechte Erfahrungen mit dem Kriegsrecht gemacht; wir kennen das schon!

Was dann passiert ist, dass die Menschen Probleme haben, die aber nicht gelöst werden. Deshalb werden die Probleme erstickt und daraus entsteht Unterdrückung. Und aus der Unterdrückung wird Aggression - und das heißt Talibanisierung."