Erbkrankheiten

Die Gefahr, die in mir schlummert

28:31 Minuten
Das Foto zeigt eine Petrischale mit einer Pipette, unter der durchsichtigen Petrischale sieht man eine Aufnahme von DNS Sequenzen.
Vererbbare Krankheiten können heute anhand von Gentests relativ gut nachgewiesen werden. (Symbolbild) © imago images / Westend 61
Von Heiner Kiesel · 21.08.2022
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Mutter, Tanten, Schwestern: In Heiner Kiesels Familie gibt es viele Brustkrebserkrankungen. Ein Gentest könnte zeigen, ob auch seine Töchter gefährdet sind. Doch will er es wirklich wissen? Die Geschichte einer schwierigen Entscheidung.
Universitätscampus Würzburg, Institut für Humangenetik. Es hat mich sehr viel Kraft gekostet, wieder hierher zu kommen. Ein Jahr hat es gedauert. Ich tappe wie ferngesteuert über einen kahlen Gang mit PVC-Fussboden in den Warteraum. Setze mich neben einen Ficus und würde am liebsten gleich wieder verschwinden. Aber ich habe auf den Termin selbst hingearbeitet.
Dann steht auch schon Neda Dragicevic in der Tür, lange, rotgold gefärbte Haare, Fachärztin für vererbbare Krankheiten. Besonders für solche, die Frauen dahinraffen: Brustkrebs, Eierstockkrebs. Als Mann gehöre ich eigentlich nicht zu ihrem klassischen Patientenprofil. Sie macht mich erst mal darauf aufmerksam, dass ich einen Tag zu früh da bin, nimmt mich aber trotzdem dran.
Neda Dragicevic hat eine Mappe unter dem Arm. Sie winkt und lächelt mir aufmunternd zu. Ich folge ihr in ein schmuckloses Besprechungszimmer. Sie wirkt fröhlich, sogar heiter. Dabei ist das, was sie mir gleich sagen wird, wahrscheinlich finster und schicksalhaft. Nicht nur für mich, sondern für meine ganze Familie.
"Das Ergebnis ist hier und ich brauche zuerst das Geburtsdatum."
Eine Brustkrebsexpertin im Gespräch mit einem Mann. Männer haben keine Brüste. Sie können zwar trotzdem Brustkrebs kriegen, aber die Wahrscheinlichkeit ist winzig. Ich habe keine Angst, an Brustkrebs zu erkranken. Ich bin aus einem anderen Grund hier. Ich habe Angst um meine Töchter.

Schon wieder Brustkrebs

Aber fangen wir von vorne an. Mit der ältesten, sie ist jetzt 18, war ich vor fast zwei Jahren im Wald unterwegs - suchend.
"Da siehst du, an den Bäumen, da sind überall Nummern dran. Und manchmal noch so Extraschilder."
Wer schon einmal in einem sogenannten "Friedwald" unterwegs war, kennt das: Man findet die Grabstelle nicht so einfach wieder, es sieht jedes Mal anders aus zwischen den Bäumen. Ich war bei der Beisetzung meiner Schwester zuletzt hier, sie wollte gern in einem Friedwald beerdigt werden.
Meine älteste Tochter, sie heißt Naila, konnte nicht dabei sein, weil sie ein Jahr im Ausland zur Schule war. Jetzt will sie sehen, wo die letzte Ruhestätte ihrer Tante ist. Aber das Gesträuch zwischen den Bäumen ist inzwischen ziemlich gewachsen. Wir suchen weiter.
Damals bei der Beerdigung dachte ich, diesen Ort vergesse ich nie, den finde ich immer. Ich war so mitgenommen davon, dass nun auch meine Schwester Edda tot ist. Und es schon wieder der Brustkrebs war.
Ehrlich gesagt, der Wald voller Toter hier verwirrt mich so sehr, da kann ich nicht mal die Grabnummer an mein Langzeitgedächtnis weiterreichen und muss ständig noch mal fragen.
Ein junges Mädchen, von hinten zu sehen, berührt einen Baumstamm, auf dem ein kleines rundes Schild mit der Grabnummer EBS 679 hängt.
Hier ist das Grab von Heiner Kiesels Schwester Edda, eine von vier Frauen seiner engeren Familie, die an Brustkrebs gestorben sind.© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
"Ja, 679 ist richtig. Dann war das genau hier, das ist ja ganz schön überwuchert, mit den ganzen Himbeeren, die hier wachsen. Also bei der Buche war es. Ich stand hier, so ein bisschen unterhalb. Neben mir deine Geschwister. Noch ein bisschen weiter oben der Michi. Der hatte einen Trauerredner besorgt. Es waren eine Menge Leute da, viele Freunde und auch von der Arbeit. Da wo es den Hang hochgeht, zwischen den Baumstümpfen, da stand der Chor in dem sie 15, 16 Jahre mitgesungen hat, die haben da gesungen."
"Weißt du noch, was sie gesungen haben?", will Naila wissen.
"Ja, ich kann dir das sogar vorspielen, weil ich eine Aufnahme dieses Stückes von dem Chor habe."

Sieben Frauen, sechsmal Brustkrebs, vier tot

Naila hört sich "Scarborough Fair" auf meinem Handy an und findet: "Das passt hier gut rein, das Lied."
Wir kommen ins Gespräch.
"Wie ist Edda eigentlich genau gestorben?"
"Dass die Brustkrebs hatte, das weißt du ja. Die hatte eine Operation, die hatten einen Knoten festgestellt und die ist dann operiert worden. Ja, die wollte keine weitere große Behandlung oder Chemotherapie haben, sondern die hat immer gemeint, sie will jetzt noch fünf Jahre gut leben, ohne sich da groß Sorgen drüber zu machen. Das war halt dann nur ein Jahr."
"Ich kann mich an fast nichts mehr mit Edda erinnern, ich habe noch ein paar kleine Eindrücke. Und Oma habe ich überhaupt nicht kennengelernt."
Oma war schon tot, bevor Naila geboren wurde. Brustkrebs. Nichts Besonderes. Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Jede zehnte Frau erkrankt daran, bei manchen lässt sich das Karzinom gut behandeln, bei anderen ist es tödlich. Meine Schwester Edda und meine Mutter sind nicht die Einzigen in der Familie, die es erwischt hat. Zufall?
Wenn meine Älteste schon mal mehr über ihre Familie wissen will, werde ich sentimental und hole den alten Super-8-Projektor aus dem Keller, zusammen mit dem Karton mit den Filmrollen. Munteres Geschrei bei den Digital Natives - eine Super-8-Show ist Mediengeschichte zum Anfassen für die Kinder.
"Tante Ruth, die Oma und die Gertrud, süüüß, das bin ich! Die Oma Juli! Wer ist das? Ist das die Edda?"
Das ist die Edda.
Von der weiß gestrichenen Wohnzimmerwand prostet uns die Großfamilie ruckelig und sepiagetönt zu. Eine Weihnachtsfeier auf dem Dorf.
"Das sind sie alle! Bei der Oma. Und stoßen so schön an. Jung und lebendig!"
Und dann diese heitere Einstellung: Lametta, Kerzen. Meine Oma, meine Mutter, drei Tanten, meine beiden Schwestern. Sieben Frauen, sechsmal Brustkrebs, vier tot.
Dann stellt mir Naila die Frage aller Fragen: "Krieg ich das jetzt auch, muss ich mir Sorgen machen?"

Genetische Veranlagung gibt auch der Vater weiter

Ich habe das Thema verdrängt, über Jahre. Und mit mir auch der Rest der Familie: Klein reden, nicht dran denken. So lange, bis es wieder eine erwischt bei uns. Heute frage ich mich: Hätte ich meine Schwester retten können, wenn ich mich früher mit der Krankheit auseinandergesetzt hätte? Jetzt ist es zu spät.
Aber nicht für meine Töchter. Die sollen Klarheit bekommen, ob sie womöglich eine genetische Veranlagung für den Krebs haben. Ob der Brustkrebs in meiner Familie vererbt wird. Und hier kommen die Männer ins Spiel. Also ich.
Ich klicke mich bis zur Seite des nächstgelegenen Brustkrebszentrums durch, bekomme einen Fragebogen zugeschickt. Verwandtschaftsverhältnisse, Tumor links oder rechts, wann? Mühsam, zäh und schmerzend, das alles in Tabellen einzutragen.
Die Anamnese scheint schlimm genug gewesen zu sein. Ich bekomme einen Termin zur Beratung in Würzburg.
Auf dem Weg in das Zentrum für Humangenetik an der Uniklinik Würzburg habe ich ein mulmiges Gefühl. Es ist gut, das Risiko für Brustkrebs in der Familie abklären zu lassen. Aber der Termin könnte natürlich Folgen haben, die ich noch gar nicht abschätzen kann.
Bisher hing das Damoklesschwert "Brustkrebs" über den Frauen der Familie. Jetzt hängt es plötzlich über mir. Denn wenn mir meine Mutter das Brustkrebs-Gen mitgegeben hat, dann habe ich es womöglich an meine Töchter weitergegeben. Die Vorstellung ist einfach grauenhaft.
Die Mitarbeiterin vom Empfang des Brustkrebszentrums bringt mich in ein Beratungszimmer. Ein runder Tisch, vier blaue Stühle. An der Wand steht ein Ständer mit Zeitschriften in lila und rosa, die alle was mit Brustkrebs zu tun haben. Hmm, witziger Titel: Mamma Mía - italiensch für "meine Mutter", oder eigentlich "Oweh!" Die Herausgeber meinen wahrscheinlich so was wie "Meine Brust", Mamma wie in Mammakarzinom.
En Mann hält drei Magazine zum Thema Brustkrebs in den Händen.
Beunruhigende Lektüre: Der Autor Heiner Kiesel hält drei Magazine zum Thema Brustkrebs in den Händen.© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Dann kommt Neda Dragicevic und nimmt mich mit. Neda Dragicevic ist die Ärztin, die mir sagen wird, wie schlimm es wirklich um meine Familie steht. Sie setzt sich mir gegenüber an den Tisch und breitet einen Packen Papier vor sich aus. Die Formulare von mir sind auch dabei.
"Gut, Sie kommen heute zur Erstberatung zu uns, weil in Ihrer Familie mehrere Personen an Brustkrebs erkrankt sind und verstorben sind. Ich werde zunächst die Daten aus ihrer Familie prüfen, damit niemand fehlt, und dann erkläre ich Ihnen weiter, ob überhaupt ein Gentest möglich ist - und bei wem."
Wir gehen noch mal die ganzen Krebsfälle durch. Eine Tante fällt aus der Liste raus, da war ich mir nicht ganz sicher. Trotzdem: Es sieht gut aus für mein Vorhaben. Also ziemlich schlecht aus medizinischer Sicht.
"Ich habe schon vor dieser Beratung für Sie selber aus den Daten ein statistisches Risiko ausgerechnet und das liegt für Sie als gesunder Person bei ca. 40 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine Genveränderung in sich tragen können, weil sechs Personen in ihrer Familie Brustkrebs hatten. Und das ist nicht wenig!"

Plötzlich geht es nicht nur um Brustkrebs

Die Ärztin erklärt mir den genetischen Hintergrund. BRCA1 und 2 heißen zwei der Gene, die da - vielleicht - mutiert das Krebsrisiko in meiner Familie hochtreiben. Statt zehn Prozent wie in der Gesamtbevölkerung liegt es dann bei bis zu 60 Prozent. Die Chance, Eierstockkrebs zu kriegen, rockt von einem Prozent auf 20 – 60 Prozent. Und: Betroffene kriegen ihren Krebs früher - häufiger beidseitig und im Zweifelsfall immer wieder. Super Perspektive, danke Mama, sorry Kinder!
Zum Trost: Betroffene Frauen kriegen ab 25 ein dickes Paket an Vorsorgeleistungen angeboten. Zweimal Ultraschall, einmal MRT pro Jahr. Man weiß ja, je früher man das entdeckt, desto besser die Aussichten. Auch denkbar: Präventiv operieren wie bei Angelina Jolie. Ein Leben voller Arztbesuche. Irgendwie psycho.
Neda Dragicevic macht weiter: "Also das sind alles nur Empfehlungen, es gibt keine Pflicht, kein Muss." Kurz blitzt es bei mir auf: Ich könnte es auch einfach verdrängen.
Meine Kehle fühlt sich raspeltrocken an. Warum ist das in dem Raum so heiß? Ich gebe zu, dass es mich gerade innerlich beruhigt, dass ich wenigstens keine Frau bin. Neda Dragicevic schaut mich jetzt ernst an:
"Es geht nicht nur um die Brustkrebserkrankung, wie Sie sich das wahrscheinlich vorgestellt haben."
Was denn jetzt noch? Das reicht doch eigentlich!
"Wenn man über Prostatakrebs spricht, dann weiß man, dass das Risiko in der durchschnittlichen Bevölkerung zwischen acht und zehn Prozent liegt. Und mit einer BRC 1- oder 2-Mutation ist sie zwei bis dreifach höher, das heißt zwischen 20 und 30 Prozent."
Damit nicht genug: Darm-, Magen-, Haut- und Nierenkrebs - die Chance, so was mit diesen entgleisten Genen zu kriegen, ist auch doppelt bis dreimal höher als normal. Es geht jetzt nicht mehr nur um meine Mädchen, es geht um alle. Es geht auch um meine Jungs. Und es geht um mich!
Allerdings: Ich MUSS die mutierten Gene nicht haben. Es KÖNNTE nur so sein bei dieser Familiengeschichte.
Porträt von Neda Dragicevic, Fachärztin für vererbbare Krankheiten am Institut für Humangenetik in Würzburg.
Neda Dragicevic, Fachärztin für vererbbare Krankheiten am Institut für Humangenetik in Würzburg, klärt Autor Heiner Kiesel über das Risiko auf, dass er das mutierte Brustkrebsgen in sich trägt.© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Dragicevic schiebt ein Blatt zwischen uns und beginnt eine Stammbaumskizze. Vererbungslehre.
"Ich kann für Sie ein bisschen was malen. Ich nehme Chromosom 17 als Beispiel und Ihre Mutter, dass die hier eine Mutation hatte, die andere Kopie war gesund. Für alle drei Kinder - für Sie und Ihre zwei Schwestern - war die Wahrscheinlichkeit schon bei der Befruchtung 50:50, dass sie das von der Mutter geerbt haben. In der anderen Linie gibt es keine Mutation, das heißt, die Risiken sind wie in der durchschnittlichen Bevölkerung und die Mutation kann nicht eine Generation überspringen."
Ich könnte aus dieser Nummer also auch einfach rausrutschen.
"Wenn Sie negativ sind, brauchen Ihre Kinder keinen Gentest zu machen. Dann sind sie hier, sie haben die familiäre Mutation nicht geerbt und Ihre Kinder können das über Ihre Linie auch nicht kriegen."
Ich gehe zurück zum Auto. Es kann sein, dass ich gar nichts habe. Aber 40 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass ich den Gendefekt geerbt habe, das ist mir eigentlich zu viel.

Von Erbkrankheiten will die Verwandtschaft nichts wissen

Neda Dragicevic hat mir ein Päckchen mit Spritze und allem mitgegeben. Ich soll Blut abnehmen. Aber: Sie will mein Blut gar nicht, sondern das von einem erkrankten Familienmitglied. Das finde ich nicht so toll, wie soll das gehen? Außerdem will ich ja wissen, was mit mir los ist und nicht mit anderen.
Aber, so die Fachärztin, die Wahrscheinlichkeiten für die Gesamtfamilie werden so genauer definiert, denn bei einer brustkrebskranken Tante lassen sich genealogisch gesehen eher die defekten Gene finden, als bei mir. Jetzt habe ich ein Problem mehr. Es ist mir voll unangenehm, damit bei der Verwandtschaft aufzuschlagen. Wir haben vielleicht eine Erbkrankheit. Ich komme aus einem kleinen fränkischen Dorf, das ist kein gutes Thema, befleckt die Familie. Also am besten, ich kümmere mich gleich drum, wo ich noch Elan habe.
Tante Gertrud will gerade die Hühner füttern, als ich auf den Hof fahre. Sie ist das, was man heute eine toughe Frau nennt. Zu Recht! Ich bewundere sie für ihre Power und ihren Eigensinn: 80, Bauerstochter, Masseurin, jetzt der Fahrdienst für ihre Enkelinnen, wuppt den Haushalt, einen Riesenobstgarten und pflegt seit Jahren ihre kranke Zwillingsschwester: Die, deren Blut ich holen soll.
Meine Tante schickt mich schon mal hoch, sie will den Hühnern erst Wasser geben. Aber sie warnt mich: "Du, der Brustkrebs, das ist so ein Thema. Die Martha ist sieben Mal operiert worden, die lässt nicht mehr an sich herumschnippeln. Aber du kannst ja mal hochgehen und Hallo sagen."
Tante Gertrud drückt mir den Schlüssel in die Hand und führt mich ins Treppenhaus. Also, um die Spannung hier gleich mal raus zu nehmen: Das wird nichts. Ich habe den Besuch bei Martha auch nicht mit dem Mikro aufgenommen. Das wäre nicht okay gewesen. Ihr geht es nicht besonders gut.
Ehrlich gesagt hatte ich von Anfang an keine große Hoffnung, dass sie mitmacht. Die Belastung wäre nicht gut für sie. Was das für den Gentest bedeutet, muss ich dann noch rauskriegen.
Historische Fotografie von Juliana mit ihren vier Töchtern, 1941.
Oma Juli: Historische Fotografie von Juliana mit ihren vier Töchtern, 1941.© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Gertrud kommt zurück von den Hühnern, mit ihr will ich jetzt Familiengeschichte aufarbeiten. In der alten Küche. Auf dem Fenstersims steht seit 20 Jahren das Sterbebildchen meiner Mutter. Fahle Farben.
"Setz dich da hin. Wie viel Uhr haben wir denn, da kommt der Doktor Weber nicht mehr zur Visite."
Ich setze mich, kriege einen selbstgekelterten Apfelsaft vorgesetzt. Ihre Schwester, erinnert sich Gertrud, hatte mit Ende 40 das erste Mal Brustkrebs.
"Dann, wenn sie immer Knötchen hatte, hat sie das immer gleich gemerkt und rausschneiden lassen. Das war sieben Mal. Jetzt sagt sie aber, sie lässt sich nicht mehr schnippeln und ich lasse mich auch nicht mehr ausschlachten."
"Hattest du auch Knoten?"
"Ja, mit 29, 30 bin ich operiert worden. Aber ich bin die Futterkammer runtergefallen, dann habe ich den Knoten rausmachen lassen."
Die beiden haben also immer ziemlich früh gemerkt, dass da was nicht stimmt, und sind aktiv geworden. Ihr Körperbewusstsein könnte ein Grund dafür sein, dass die beiden noch leben, ihre älteren Schwestern aber längst tot sind. Ich spreche meine Tante auf die Häufung von Krebsfällen an. Und auf den Zusammenhang mit der Futterkammer.

"Ich überlasse das dem Schicksal"

"Das waren Unfälle!" Ich gucke sie fassungslos an.
"Die Oma war auch einmal böse gefallen. Irgendwie hat die Oma auch durch den Unfall Brustkrebs bekommen, dass sich das dann verbreitet und entzündet hat und dann ist die Oma operiert worden."
"Wann hat die Oma ihre Operation gehabt, ich erinnere mich, dass die schon so alt war, dass sie keiner mehr operieren wollte, oder?"
"Ja, die war schon achtzig! Und deine Mama, die hatte ja auch Brustkrebs, und das war auch irgendwie durch einen Unfall. Die ist auch mal vom Fahrrad gefallen, deine Mutter."
Ein ziemlich schräges Erklärungsmodell: Tante Gertrud glaubt, dass Unfälle Brustkrebs auslösen. In meiner Familie gibt es noch ganz andere Theorien: Wenn man zu viel darüber spricht und sich Sorgen macht, zum Beispiel, dann kann das auch Krebs auslösen.
Aber was weiß ich schon. 90 Prozent aller Brustkrebsfälle in der Bevölkerung tauchen aus völlig unerklärlichen Gründen auf.
Ich habe mich dazu entschlossen, mich mit den genetischen Gründen zu beschäftigen. Vielleicht ist das auch nicht mehr als Ausdruck des Zeitgeistes, der jetzt eben mit den Genen alles erklären und heilen will, entschlüsseltes Genom, RNA-Impfstoffe, die Genschere Crispr-Cas. Vielleicht ist es auch nur Zufall, Unglück, Schicksal, was bei uns los ist.
Gertrud sagt zum Schluss: "Jeder Mensch kämpft mit Krebszellen, die malignen Zellen, jeder Mensch, täglich. Wir müssen eben unser Immunsystem stärken und damit fertig werden."
"Habt ihr euch mal überlegt, ob man das untersuchen könnte?", frage ich nach.
"Das kannst du nicht untersuchen, das hast du eben oder nicht. Ich überlasse das dem Schicksal."
Und dann gehe ich wieder und Tante Gertrud trägt mir noch Äpfel aus ihrem Garten hinterher.

Es gibt ein Recht auf Nichtwissen

Es vergehen wieder ein paar Wochen. Ich bin zwar immer wieder versucht, die ganze Sache dem Schicksal zu überlassen, aber dann denke ich wieder an den Tag im Wald mit meiner ältesten Tochter. Inzwischen weiß ich ja auch, dass ich selbst potenziell gefährdet bin, an Krebs – egal welcher Art – zu erkranken. Nachdem ich den Leuten im Brustkrebszentrum mitgeteilt habe, dass ich von meinen Tanten kein Blut bringen kann, darf ich doch selbst getestet werden. Mein brustkrebslastiger Stammbaum erlaubt das. Ich lasse mir die Blutprobe bei meinem Hausarzt nehmen.
Das Päckchen mit der Probe geht nach Würzburg und ich rüber ins Behandlungszimmer, weil mich interessiert, was der Doktor von meiner Aktion hält. Ein Landarzt wie aus einem Heimatfilm, kräftig gebaut, große Hände, eine dicke Brille und von unerschütterlicher Ruhe.
"Ja, mein Name ist Waldemar Weber. Ich bin Allgemeinarzt, hier schon seit 35 Jahren niedergelassen."
Er hat meine Mutter, meine Tanten, meine Oma behandelt. Wie sieht er das mit der familiären Disposition für Brustkrebs und dem Gentest?
"Das wird eher von den Gynäkologen angeregt, das ist mir bisher - mit Ihnen - zweimal vorgekommen, nicht öfters. Und Sie sind der erste Mann, der vorbeikommt."
Eine Hand liegt auf dem Baumstamm des Baumes, auf dem ein kleines rundes Schild mit der Grabnummer EBS 679 hängt.
Mit seiner ältesten Tochter sucht Autor Heiner Kiesel die Grabstätte seiner Schwester. "Damals bei der Beerdigung dachte ich, diesen Ort vergesse ich nie, den finde ich immer." © Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Mein Hausarzt ist nicht so der reine Schulmediziner, er hat sich auf Naturheilverfahren spezialisiert. Er ist auch nicht davon überzeugt, dass es einem immer guttut, wenn man über alles Bescheid weiß. So wie über mutierte Brustkrebsgene.
"Ich denke, es besteht auch eine Art Recht auf Nichtwissen. Die Frage ist, wie kann jemand mit so etwas umgehen, zu wissen, ich könnte so etwas bekommen. Die Wahrscheinlichkeit ist ja auch sehr hoch, ich schätze mal, so um die 80 Prozent, wenn der Test positiv ausfällt. Das ist ja nicht gesagt, dass jemand einen Brustkrebs bekommt, und welche Konsequenz hat das dann.
Lasse ich mir wie die bekannte Schauspielerin die Brüste abnehmen, oder was mache ich dann? Gehe ich dann regelmäßig und öfter zur Vorsorge. Das sind so Fragen, die muss der Patient dann selber klären. Ob er das Risiko eingeht, etwas zu wissen, das vielleicht eintritt, oder dass er dann mit Angst durchs Leben geht die nächsten Jahre."
Ich gebe zu, da trifft er einen wunden Punkt. Was mache ich denn, wenn ich positiv getestet werde. Was richte ich damit an? Was sage ich meinen Kindern? Weber legt nach.
"Die Frage ist ja auch, wie alt die Kinder sind? Sind sie selbst schon über 18, können sie sich selbst schon entscheiden, den Test machen zu wollen. Das Risiko auf sich nehmen, mit dem Test zu leben und den Kindern dann irgendwie das Wissen vorzuenthalten, oder es mitzuteilen, das ist sicherlich eine ganz schwierige ethische Frage."
Damit nicht genug. Ich habe noch eine Schwester, Nichten, einen Neffen, neun Cousinen und Cousins mütterlicherseits, die auch schon wieder Kinder haben. Soll ich ihnen mein Testergebnis mitteilen? Wollen die das überhaupt wissen?
"Wir müssen uns nur hüten, ob wir irgendwelche Leute zu Kranken machen, die eigentlich gar nicht krank sind. Dass der Phänotyp zum Genotyp in Konkurrenz tritt, dass sich Leute als krank fühlen, die eigentlich gesund sind und vielleicht nur krank werden können."

Der Tag der Wahrheit

Auf der Heimfahrt fühle ich mich angeschlagen. Ich habe aber auch schlecht geschlafen. Das rechte Knie hat heute Morgen beim Auftreten gestochen, als ob es mir sagen wollte, beweg dich nicht so viel, bleib lieber zu Hause. Aber man soll ja nicht alles überpsychologisieren.
Und dann kommt der Tag der Wahrheit. Würzburg. Institut für Humangenetik.
Ich muss zugeben, es hat mich noch ziemlich Kraft und Zeit gekostet. Nach meinem Gespräch mit dem Hausarzt war ich unsicherer als je zuvor. Es war verlockend, das Thema einfach versanden zu lassen. Niemand würde mich je danach fragen. Aber irgendwann habe ich mir gedacht, es ist besser, wissend nichts zu tun, als keine Ahnung zu haben, was man tun könnte. Aber ich bin ziemlich durch den Wind. Und einen Tag zu früh gekommen. Peinlich. Aber Fachärztin Neda Dragicevic nimmt mich trotzdem dran.
Ich haspele noch weiter rum, zähle ihr, die das vielleicht gar nicht weiter interessiert, auf, was alles passiert ist, wie es sein konnte, dass ich über ein Jahr gebraucht habe, um hier wieder aufzuschlagen. Wahrscheinlich versuche ich, mich einfach zu beruhigen. Jetzt sitze ich ihr wieder gegenüber in dem Beratungszimmer. Im Ständer liegen neue Mamma-Mía-Hefte. Dragicevic legt ein bedrucktes Blatt auf die Tischplatte zwischen uns.
"Das haben Sie bei der Erstberatung von mir gekriegt und ich habe Ihnen erzählt, dass entweder eine kranke Person oder eine gesunde Person, bei der das Risiko über 20 Prozent für eine Mutation liegt, eine komplette genetische Untersuchung kriegen kann."
Jetzt kommt es, noch ein Papier.
"Und ich habe für Sie gute Nachrichten: Wir haben bei Ihnen keine pathogene Veränderung gesehen, krankheitsverursachende Veränderung. Alle elf Gene, die wir bei Ihnen als subtile Diagnostik untersucht haben, sind komplett negativ. Das ist zuerst für Sie gut, aber auch für ihre Kinder. Was sie nicht haben, können Sie auch nicht weitergeben!"
Mir fällt ein Stein vom Herzen und eine Last von den Schultern, die ich erst jetzt in ihrem ganzen Ausmaß spüre. Ich habe Gewissheit, dass ich - und damit auch meine Kinder - keinen Gendefekt habe, der Krebs begünstigt. Ich habe mich so lange davor gefürchtet, dabei musste ich mich nur trauen. Was für ein Glück! Ich weiß zwar immer noch nicht, warum all diese tollen Frauen in meiner Familie gestorben sind. Vielleicht ist es der Gendefekt. Vielleicht war es aber auch einfach nur unglückliches Schicksal.
Ich falle der Ärztin fast um den Hals.
"Das ist einfach super!" – "Dann wünsche ich Ihnen alles Gute, tschüss."

Yes! Yes! Yes!
Die Erstausstrahlung der Sendung war am 21. Februar 2021.

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