Er will doch nur spielen

Rezensiert von Udo Scheer · 16.05.2010
Manfred Böhme liebte das Rollenspiel. Er gab sich als SED-Gegner, spitzelte insgeheim für die Stasi, ließ sich zum Vorsitzenden der illegalen SDP wählen - und flog schließlich auf. Christiane Baumann hat nun ein Buch über sein Leben veröffentlicht.
Ibrahim - schon dieser Name ist bei Manfred Böhme Teil einer selbstinszenierten Täuschung. Bereits 1992 notierte die stern-Journalistin Birgit Lahann:

"Sein Leben besteht aus fremden Identitäten. Als er Lenin liest, kleidet er sich wie Lenin, redet Lenins Text und fällt um wie Lenin. Als er Reiner Kunze kennen lernt, fängt er an zu dichten. Robert Havemanns Ideen macht er zu den seinen. Als die Leute der Staatssicherheit ihm erklären, dass Havemann ein Staatsfeind ist, verrät er ihn. Als er mit Ulrike Poppe im Café sitzt, ist er ein Oppositioneller. Und am Abend, wenn er seinem Führungsoffizier ins Tonband spricht, ist er ein Denunziant."

Manfred Böhme suchte Rollen und ging in ihnen auf. Noch heute halten sich in Nachschlagewerken hartnäckig Legenden wie die vom jüdischen Waisenjungen unbekannter Herkunft, von politischer Haft 1968, von verschiedenen Studienabschlüssen, vom SED-Austritt 1976 und fünfzehn Monaten U-Haft wegen "Staatsfeindlicher Hetze". Nach Bekanntwerden seiner 20-jährigen Stasi-Karriere konnte mancher frühere Freund sich die Verstrickungen nur so erklären:

"Böhme hat geglaubt, er könne die Stasi überlisten. Das ist ein verhängnisvoller Irrtum gewesen."

Selbst der 2009 früh verstorbene Greizer Lyriker Günter Ullmann, für den Böhmes Berichte verheerendste Folgen hatten, war überzeugt:

"Böhme wollte die Palastrevolution. Dabei hat er sich die Hände schmutzig gemacht."

Es ist die Leistung der Berliner Journalistin und Sachbuchautorin Christiane Baumann, erstmals Manfred Böhmes Leben, seine Motive und seinen Verrat durch umfangreiche Recherchen in Archiven, aus seinen Stasi-Berichten und in Gesprächen rekonstruiert zu haben. Was hat Christiane Baumann zur Rekonstruktion dieses Lebenslaufes bewogen?

Baumann: "Ich habe den Nachlass gesehen, der bei der Havemann-Gesellschaft existiert, und habe bemerkt, dass nur falsche Angaben über Böhme kursieren, meistens durch ihn in die Welt gesetzt, und fand es wichtig, dort der Wahrheit ein bisschen auf die Spur zu kommen."

Anders als in allen Selbstdarstellungen kommt Böhme am 18. November 1944 in Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt als eines von neun Kindern aus zwei Ehen seines Vaters zur Welt. Er wächst zeitweilig bei Pflegeeltern und im Heim auf und findet nicht die erhoffte Zuwendung. Familienersatz wird dem Jugendlichen die Partei, die ihn mit 18 aufnimmt. Er arbeitet als Erzieher, bis ihn 1965 eine Parteistrafe trifft, weil er "den Ansichten Havemanns huldigt".

Auf Vermittlung eines Freundes wird er Hilfsbibliothekar in Greiz, gründet im Parteiauftrag einen Jugendklub und gefällt sich in der Rolle des intellektuellen Inspirators. Mehrere junge Leute begeistert er für einen DDR-kritischen Philosophie- und Lyrikzirkel. Nach den 1968er Ereignissen steht er erneut unter Bewährung und wird als IM angeworben. Erstmals fühlt er sich bei der Staatssicherheit in einer richtigen Familie und er will nur eins: Sich unentbehrlich machen. Von sich aus bietet er an, das Vertrauen von Reiner Kunze und Jürgen Fuchs zu gewinnen. Er liefert ausführlichste Berichte und erfindet Belastendes hinzu, auch über die jungen Leute im "Greizer Kreis".

Baumann: "Beim Nachrecherchieren vieler Zusammenhänge wird vor allem ein Muster deutlich: Böhme verband sehr kunstvoll Tatsächliches, Personalien oder Ereignisse, mit frei Erfundenem und vor allem mit der hervorgehobenen Darstellung seiner eigenen Person. Die Bewertung, die 1990/91 in Greiz kursierte, er habe das Schlimmste verhindert und mit seinen IM-Berichten seine Freunde geschützt, lässt sich nach Auswertung mehrerer OV-Akten überhaupt nicht bestätigen."

Böhme steigt auf zum Kreissekretär des Kulturbundes, gilt unter SED-Genossen, die nichts von seinem konspirativen Doppelleben ahnen, aber bald als verkappter Gegner und verliert die Stelle wieder. Auch als IM erhält er nach Reiner Kunzes Ausreise 1977 kaum noch Aufträge. Mit einer Flugblattaktion und Selbstanzeige nötigt er den "Organen" wieder die ihm so wichtige Aufmerksamkeit ab. Auch wenn es absurd erscheint, sein Ziel ist die U-Haft. In den folgenden vier Monaten kann er seine Loyalität bekunden und erbettelt regelrecht "Wiedergutmachung durch operative Arbeit". In Mecklenburg darf Böhme sich gegen kirchlich oppositionelle Kreise bewähren, er erlangt das Vertrauen von Markus Meckel und Wolfgang Templin und so den Zugang zu den wichtigsten Oppositionsgruppen in der DDR. Über seine erste Einladung in den philosophisch-theologischen Gesprächskreis um Peter Hilsberg berichtet er seinem Führungsoffizier:

"Es war deutlich zu spüren, die Theologen lassen sich ihre 'dreckige Arbeit' hier von Marxisten machen, die sich benutzen lassen, die glücklich darüber sind, sich irgendwo - und wenn es bei den Theologen ist - zu produzieren."

Mit Unterstützung der Staatssicherheit zieht Manfred Böhme nach Berlin, er verdient den offiziellen Teil seines Lebensunterhalts mit Hilfsjobs und arbeitet aktiv mit in den wichtigsten Oppositionsgruppen der DDR, darunter in der "Initiative für Frieden und Menschenrechte". Als Top-IM "Maximilian" befolgt er den Stasi-Auftrag: "Bremsen, aber nicht blockieren." Er liefert bändeweise Dossiers. Bärbel Bohleys Lebenspartner Werner Fischer wird später über ihn sagen: "Er wollte schon zur Familie gehören. In seinem Fall zu zwei Familien."

Baumann: "Über ihre Gedanken beim Lesen der IM-Berichte von Ibrahim Böhme sagte mir Ulrike Poppe: 'Vor allem hat mich der Charakter seiner Berichte schockiert. Ich finde ja in meiner Akte Berichte, die sehr sachlich sind und denen man anmerkt, dass nur das Notwendigste, möglicherweise unter Druck, ausgesagt wird. Aber bei Ibrahim Böhme habe ich das Gefühl, dass er Spaß daran hatte, dass er mit denunziatorischem Eifer daran gegangen ist und so viel wie möglich berichtet hat. Und auch manches dazu dichtete, um einen Bericht noch interessanter zu machen. […] Er war nicht schlechthin gespalten, sondern er war in seiner Hauptidentität ganz bewusst Spitzel.'"

Zu seiner Hochform läuft "Maximilian" bei der illegalen SDP-Gründung am 7. Oktober 1989 in Schwante auf, wo er sich zum Geschäftsführer und später zum Vorsitzenden wählen lässt. Er gewinnt das Vertrauen von Willy Brandt, westdeutsche Journalisten sind begeistert von diesem neuen, unverbrauchten Gesicht auf der politischen Bühne. Manfred Böhme lebt seine Traumrolle, bis die CDU am 18. März die ersten freien Wahlen gewinnt und sich IM-Gerüchte über ihn verdichten. Es folgen sein Zusammenbruch, Depressionen, Flucht in den Alkohol und bis zu seinem einsamen Tod im November 1999 in Neustrelitz immer wieder Dementis seiner Stasi-Zuträgerschaft.

Christiane Baumanns "rekonstruierter Lebenslauf" entzaubert erstmals den Mythos Böhme. Und auch das ist ein Verdienst ihres aufwändig recherchierten Buches: Es zeigt eindrucksvoll, wie die Kleinheit und Enge in der DDR auch zu einer Enge im Denken und Handeln führte.

Christiane Baumann: Manfred "Ibrahim" Böhme. Ein rekonstruierter Lebenslauf
Robert-Havemann-Archiv, Berlin
Cover: "Manfred 'Ibrahim' Böhme. Ein rekonstruierter Lebenslauf"
Cover: "Manfred 'Ibrahim' Böhme. Ein rekonstruierter Lebenslauf"© Robert-Havemann-Archiv