"Er hat die tollsten Geschichten erzählt"

Gerhard Steidl im Gespräch mit Joachim Scholl · 13.09.2013
Erich Loest habe praktisch bis zum letzten Tag seines Lebens geschrieben, sagt der Göttinger Verleger Gerhard Steidl. Er habe einen speziellen sächsischen, sarkastischen Humor gehabt. "Mir imponierte, dass er so geradlinig war, bescheiden und einfach blieb."
Joachim Scholl: Der Schriftsteller Erich Loest ist tot. Gestern am späten Abend kam die Meldung aus Leipzig, dass der 87-Jährige durch einen Sturz aus einem Fenster der Universitätsklinik zu Tode kam. Die Polizei geht von einem Suizid aus. Erich Loest war schwer krank und vor einiger Zeit schon hat er sich völlig zurückgezogen, mochte auch nicht mehr schreiben. Wir wollen seine Persönlichkeit, seine Literatur, seine Wirkung gleich mit seinem langjährigen Verleger und Freund Gerhard Steidl würdigen. Beitrag in Informationen am Mittag, Deutschlandfunk(MP3-Audio) Zuvor erinnert Andreas Berger an die bedeutenden Bücher des Autors.

Scholl: Andreas Berger über Erich Loest, der gestern im Alter von 87 Jahren gestorben ist. Am Telefon begrüße ich nun Gerhard Steidl. Er hat in seinem Verlag die Werke von Erich Loest verlegt und war mit ihm befreundet. Guten Morgen, Herr Steidl!

Gerhard Steidl: Guten Morgen!

Scholl: "Zuneigung und Liebe", so emphatisch hat Bundespräsident Joachim Gauck seine Verbindung zu Erich Loest umrissen. Sie, Herr Steidl, haben heute früh erst von seinem Tod erfahren. Es trifft Sie sehr, nicht?

Steidl: Ja, vor allen Dingen, weil wir bis in die letzten Tage hinein gearbeitet haben. Es ist ja nicht so, wie in der Anmoderation gesagt wurde, dass er zurückgezogen lebte und nichts mehr geschrieben hat. Er hat praktisch bis zum letzten Tag geschrieben. Vor zwei Jahren, in 2011, hat er mir ein Manuskript gegeben mit dem Titel "Man ist ja keine 80 mehr", eine Autobiografie, und da hat er zu mir gesagt: Das war's, ich schreibe nichts mehr. Ich hab damals schon nicht dran geglaubt. Er hat sofort danach angefangen, wieder zu schreiben. Es ist eine kleine Erzählung entstanden, die jetzt gerade erschienen ist, und ein halb fertiges Manuskript liegt bei ihm auf dem Schreibtisch.

Scholl: Da haben Sie uns dann ertappt, Herr Steidl, sozusagen. Wir haben noch dieser Rede geglaubt von damals, dass er eigentlich nicht mehr schreiben mochte. Es schickt sich nicht, an dieser Stelle über die Umstände seines Todes zu spekulieren. Aber Erich Loest war von seinem Naturell – war er der Typ, einen solchen entscheidenden Schritt zu tun? Was glauben Sie?

Steidl: Nein. Hätte ich nicht gedacht, hätte ich nicht erwartet, weil er war lebensfroh und voller Aktivität. Auch kein bisschen gebrechlich in den letzten Jahren. Natürlich hat er weniger Veranstaltungen machen können, aber er hat die Nähe zum Publikum gesucht, Lesungen gemacht und immer, so wie er selbst gesagt hat, jeden Tag seinen Schreibtisch aufgesucht und hat geschrieben. Hätte ich nicht mit gerechnet, aber gut, wenn die Schmerzen zu groß werden …

Scholl: Darum ist Ihre Stimme aber vielleicht doch wichtig, um also vorschnellen Zuweisungen, Spekulationen vielleicht doch die genauer zu überprüfen. Herr Steidl, Sie kannten Erich Loest seit bald 30 Jahren. Wie sind Sie eigentlich einander begegnet?

Steidl: Eigentlich habe ich ihn kennengelernt über Günter Grass. Es war unmittelbar nach der Wende. Erich Loest hatte die Idee gehabt, einen Verlag zu gründen. Und er wollte es mit seinem Sohn zusammen machen, einen Selbstverlag. Er hat Günter Grass um Rat gefragt und gesagt: Kann dein Verleger uns eventuell etwas unterstützen? Grass hat ihm übrigens abgeraten, einen Selbstverlag zu gründen, aber er war davon so überzeugt, und er wollte auch Verleger sein, er wollte Unternehmer sein. Ich habe dann ab 1989 für ihn und für seinen Sohn, für den Linden-Verlag die Bücher von Erich Loest gedruckt. Späterhin, bei dem Buch "Nikolaikirche" haben wir gemeinsam publiziert, Linden Verlag / Steidl, und dann, ganz später, hat er sich entschieden, doch wieder alles zu Steidl zu geben. Also uns verbindet da eine lange Publikationsgeschichte.

Scholl: Und Sie wurden Freunde. Wie war er denn eigentlich im Umgang? Man hat ihn ja als ziemlich knorrigen Menschen wahrgenommen in der Öffentlichkeit.

Steidl: Also ich hab ihn in Erinnerung als einen Mann mit einem speziellen sächsischen Humor, sehr sarkastisch, und vor allen Dingen, er war Essen und Trinken zugetan und bei gemeinsamen Abendessen hat er die tollsten Geschichten erzählt, und wenn ich bei ihm zu Besuch war, war es immer wunderbar. Ich bin meistens am Nachmittag, 16 Uhr, bei ihm eingetroffen, und wir haben etwas gearbeitet, und dann sagte er: Hast du Lust auf ein Bier? Also haben wir ein Bier getrunken. Um 18 Uhr guckte er auf die Uhr und sagte: Jetzt ist eigentlich Zeit für einen guten Wein, hast du Lust? Und er hat eine wunderbare Flasche Rotwein aufgezogen. 20 Uhr, wenn wir mit der Arbeit fertig waren, sagte er, lehnte er sich zurück in seinem Sessel und sagte: Jetzt brauche ich einen Schnaps. Und das beschreibt eigentlich seine Lebensfreude.

Scholl: Zum Gedenken an den Schriftsteller Erich Loest, der gestern gestorben ist, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Verleger Gerhard Steidl. Was hat Ihnen imponiert an diesem Mann, Herr Steidl? Wie schätzen Sie auch seine Literatur ein? Was war er für eine Persönlichkeit in dieser Hinsicht?

Steidl: Mir imponierte, dass er so geradlinig war und bescheiden und einfach blieb. In der Anmoderation wurde auch gesagt, dass er ein Anwalt der kleinen Leute war. Ja, das stimmt. Er selbst hat einfach gelebt und sich völlig normal verhalten, obwohl er ja in der DDR und in Ostdeutschland und teilweise auch in der Bundesrepublik fast ein literarischer Superstar war. Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, wirklich normal zu bleiben. Und das ist beeindruckend.

Scholl: Man hat ihn als politischen Autor bezeichnet, und da schwang doch bisweilen bei der Kritik so eine Skepsis mit, so à la der Loest, der halt die DDR-Diktatur zu Klump haut in jedem Buch, wo er kann. Wie haben Sie das empfunden?

Steidl: Nein, das stimmt nicht. Er hat natürlich sein Land geliebt, er hat die Menschen, die Landschaft, die Städte geliebt, und trotzdem hat er kritisiert, was zu kritisieren ist. Denn unmittelbar nach der Wende wurde viel unter den Tisch gekehrt. Und er hatte eben das Bedürfnis zu helfen, eine soziale und eine gerechte Gesellschaft im Osten aufzubauen. Das war seine Mission, und dafür ist er unermüdlich gereist, hat Lesungen und Vorträge gehalten und hat Bücher geschrieben. Er hat eigentlich gegen den politischen Zeitgeist geschrieben und seine Meinung offensiv unters Volk gebracht.

Scholl: Sie haben schon Günter Grass erwähnt, der Sie sozusagen zusammengebracht hat. Günter Grass hat 1995 mit seinem "Weiten Feld" die Wiedervereinigung kritisiert, erschienen in Ihrem Haus, Herr Steidl. Fast parallel dazu erschien die "Nikolaikirche". Man kann es ja auch ein literarisches Manifest für den Protest und auch eben für die Wiedervereinigung nennen. Wie ging denn das eigentlich zusammen, diese beiden Temperamente, Günter Grass und Erich Loest?

Steidl: Ich erinnere mich daran, dass wir öfters in Behlendorf, wo Günter Grass wohnt, lange Spaziergänge hatten durch die Felder in Schleswig-Holstein. Und es waren Streitgespräche, politische Streitgespräche, die aber immer versöhnlich waren. Jeder hat für seine Position geworben. Und in der Diskussion hat man neue Erkenntnisse bekommen. Und es waren zwei Streithähne, die befreundet waren. Es war eine wunderbare Freundschaft, glaube ich, von den beiden, geprägt durch Respekt.

Scholl: Wie wird man sich an Erich Loest erinnern in 20, 30, 40 Jahren? Als an den Autor, der die deutsche Wende und die Zeit der SED-Diktatur davor am besten, am wirkungsvollsten eingefangen hat?

Steidl: Ja, mit Sicherheit. Denn in seinen Büchern kommen Leute zu Wort, er lässt Leute erzählen, er lässt Menschen erzählen, die sonst keine Stimme haben. Und das wird auch in 20, 30, 40 Jahren gelesen werden, weil eine junge Generation natürlich vermittelt bekommen möchte, was die Elterngeneration gedacht und gemacht hat.

Scholl: In memoriam Erich Loest. Das war Gerhard Steidl, der Verleger und Freund des Autors. Ich danke Ihnen, Herr Steidl, für dieses Gespräch.

Steidl: Auf Wiedersehen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Literaturnobelpreisträger Günter Grass prostet auf der Buchmesse 1999 seiner Ehefrau Ute und seinem Verleger Gerhard Steidl zu.
Der Verleger Gerhard Steidl (rechts) 1999 mit Literaturnobelpreisträger Günter Grass und dessen Frau Ute.© AP Archiv