Entwicklungshilfe

"Manchmal wie Sisyphos"

Bärbel Dieckmann im Gespräch mit Michael Groth · 14.12.2013
Jeder achte Mensch hungert. Das sind 824 Millionen Menschen. Jeden Tag sterben etwa 16.000 Menschen an den Folgen von Unterernährung, die meisten in Afrika. Wie man das am besten bekämpfen kann und wie anstrengend dieser Kampf sein kann, erklärt Bärbel Diekmann, Präsidentin der Welthungerhilfe.
Michael Groth: Bärbel Dieckmann ist seit 2008 Präsidentin der Welthungerhilfe. Die Welthungerhilfe ist eine der größten privaten Hilfsorganisationen in Deutschland. Sie engagiert sich von der schnellen Katastrophenhilfe über den Wiederaufbau bis zu langfristigen Projekten.
Das Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe steht im Mittelpunkt. Seit der Gründung der Welthungerhilfe 1962 wurden mehr als 7000 Projekte in 70 Ländern mit rund 2,6 Mrd. Euro gefördert.
Frau Dieckmann, die Entwicklungszusammenarbeit steht ja im Grunde zwischen zwei Polen, zwischen der Nothilfe bei Katastrophen, wie jüngst in den Philippinen, und der langfristigen humanitären Arbeit. Wie verbinden Sie diese Pole?
Bärbel Dieckmann: Das sind scheinbar zwei Pole. Oft sind es gar nicht zwei Pole, weil die Länder, die keine starke Widerstandskraft haben gegen Naturkatastrophen, auch oft die Länder sind, in denen man Nothilfe leisten muss. Die Philippinen sind ein gutes Beispiel. Das war ein katastrophaler Orkan, aber er hat natürlich deshalb auch so getroffen, weil die Gebäude nicht angemessen sind, weil die Menschen nicht auf solche Katastrophen eingestellt sind. Und deshalb arbeiten wir auch in beiden Fällen, weil es ganz wichtig ist, nach der Katastrophe in der Nothilfe schon zu überlegen: Was kann man tun, um die Widerstandsfähigkeit vor der nächsten Katastrophe zu erhöhen?
Michael Groth: Bleiben wir bei dem Beispiel. Wie wird so etwas verzahnt?
Große Erfolge in Haiti
Bärbel Dieckmann: Ich sage immer, die ersten zwei, drei Tage ist es Nothilfe. Da muss man wirklich das Notwendigste tun. Jetzt geht es zum Beispiel in den Philippinen darum Häuser wieder aufzubauen, den Menschen Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, sie zu unterstützen, dass sie auf den Märkten kaufen können. Und dabei ist aber auch wichtig, dass vielleicht jetzt so wieder aufgebaut wird, dass der nächste Orkan, der nächste Taifun diese Häuser nicht so trifft, wie es der vergangene gemacht hat. Deshalb braucht man diese ersten Wochen. Da ist es sozusagen Nothilfe. Aber schon in der Nothilfe wird mitgedacht, was muss man langfristig tun.
Wir haben in Haiti zum Beispiel ganz große Erfolge. Ich habe mir das selbst angeguckt. Nach dem Erdbeben haben wir in vielen Dörfern wieder aufgebaut. Und diese Häuser sind von Sandy vollkommen unberührt gewesen. Da hat es keine weiteren…
Michael Groth: Sandy, der Wirbelsturm, der im vergangenen Jahr über Haiti hinwegging?
Bärbel Dieckmann: Genau. Da hat's keine Schäden gegeben. Ich bin selbst nochmal dagewesen. Und das ist schon ein guter Erfolg.
Michael Groth: Die Welthungerhilfe arbeitet nach dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe. Insoweit ist ja die Entwicklungszusammenarbeit auch eine politische Aufgabe. Eigenverantwortung wird erwartet. Eigenverantwortung hat etwas mit Demokratie zu tun. Die gibt es nun nicht überall und man kann auch sagen, eigentlich in den wenigsten der Länder, in denen Sie tätig sind. Das macht die Helfer vielleicht nicht unbedingt beliebt. Wie gehen Sie mit dieser Frage um?
Bärbel Dieckmann: Ich sag mal: Bei den Menschen, mit denen wir arbeiten, sind die Helfer in der Regel beliebt, weil sie spüren und merken, dass wir auf Augenhöhe arbeiten, dass wir ihre Interessen ernst nehmen, dass wir auch ihre kulturellen Hintergründe ernst nehmen. Bei den Regierungen ist das vielleicht manchmal nicht ganz so, weil natürlich durch die Hilfe, die wir leisten, das Selbstbewusstsein der Menschen größer wird und nach einer gewissen Zeit sie in der Lage sind, auch ihre Interessen durchzusetzen.
Wir arbeiten ja immer mit Partnerorganisationen zusammen, so dass wir auch eng vernetzt sind im Land. Der Widerspruch kann schon mal auftreten, ja.
Michael Groth: Machen Sie Ihr Engagement auch von guter Regierungsführung abhängig? Gibt’s da Zusammenhänge?
"Wir arbeiten auch in fragilen Staaten"
Bärbel Dieckmann: Nein. Unser Ziel ist gute Regierungsführung, aber wir arbeiten in sehr vielen Ländern, in denen es keine gute Regierungsführung gibt. Wir arbeiten ja auch in vielen fragilen Staaten. Das ist unser Schwerpunkt. Armut und Hunger herrscht vor allem da, wo nicht ausreichend gute Regierungsführung ist.
Michael Groth: Jeder achte Mensch hungert. In der Landwirtschaft gibt es sehr viele Möglichkeiten, das verbessern zu wollen. Eine Möglichkeit ist der Einsatz von Gentechnik. Machen Sie so was?
Bärbel Dieckmann: Also, 80 Prozent der Landwirte, Bauern weltweit haben unter anderthalb Hektar. Das sind übrigens auch die Regionen oft, in denen gehungert wird. Und diesen Bauern würde der Einsatz von Gentechnik überhaupt nicht helfen. Deshalb ist das für uns kein Thema in der Hungerbekämpfung. Sie würden sogar noch abhängiger werden vom jährlichen Kauf von Saatgut. Und das ist genau das, was sie nicht können, weil sie nicht genügend Einkommen haben.
Die Diskussion gibt es immer wieder in der industrialisierten Landwirtschaft, dass man dann noch mehr produzieren kann. Für uns bedeutet das aber auch keine Lösung, weil die Menschen, die heute hungern, die unter 1,2 Dollar am Tag haben, haben in der Regel keine Arbeitsplätze. Das heißt, sie könnten sich auch das in den USA oder Europa erzeugte Getreide nicht kaufen, weil sie kein Geld haben. Und damit ist Gentechnologie kein Beitrag zur Hungerhilfe.
Michael Groth: Und ich vermute, die Tatsache, dass Ernährungsprodukte auch an den Börsen gehandelt werden, also, dass mit ihnen spekuliert wird, erleichtert Ihre Arbeit auch nicht unbedingt.
Bärbel Dieckmann: Nein. Und da treten wir auch ganz vehement gegen auf. Es gibt klare Ergebnisse in der Forschung, dass dann, wenn sowieso Lebensmittel knapp werden, dann die Preise sich nochmal erhöhen durch Spekulation. Und das kann nicht richtig sein. Wir begrüßen sehr, dass die Koalition jetzt in Deutschland, die wahrscheinlich zukünftige Bundesregierung das auch mit in den Koalitionsvertrag aufgenommen hat.
Michael Groth: Das Klima ist ein entscheidender Faktor in der Landwirtschaft. Die Klimakonferenz in Warschau ist wieder Mal, wie so viele, ohne greifbares Ergebnis zu Ende gegangen. Inwieweit beunruhigt Sie das, dass da nicht der Wille der Staatengemeinschaft zu erkennen ist, tatsächlich etwas zur Verbesserung, zum Schutz des Klimas zu machen? Das muss doch Ihre Arbeit noch schwieriger machen.
"Viele arme Länder haben gar keinen ökologischen Fußabdruck"
Bärbel Dieckmann: Ja, „beunruhigend“ ist dabei ein leichtes Wort. Es ist viel schlimmer. Es ist für viele Länder natürlich eine Katastrophe. Der CO2-Ausstoß erfolgt in den ehemaligen oder jetzigen Industriestaaten, in den reicheren Ländern. Viele arme Länder haben gar keinen ökologischen Fußabdruck, weil sie gar nicht viel CO2 verbrauchen. Und gleichzeitig sind die Schäden, die verursacht werden in den Ländern, in den Entwicklungsländern besonders groß.
Es gibt Schätzungen, dass schon in 20 Jahren 400 Mio. Menschen weltweit in Gebieten leben, die vom Wasser überschwemmt werden aller Wahrscheinlichkeit nach, die von der Erdfläche verschwinden. Und das bedeutet natürlich einen unglaublichen Druck. Und in Afrika, Südsahara Afrika, aber auch in Asien, in Mittelamerika ist der Klimawandel eine Ursache dafür, dass immer wieder Rückschritte kommen.
Michael Groth: Wie erklären Sie sich diese Kurzsichtigkeit?
Bärbel Dieckmann: Ich glaube, dass wir in den wohlhabenderen Ländern zu spät die Debatte bekommen haben, dass wir mit Energieeffizienz oder vielleicht auch mit einem Stück Reduzierung unseres bisherigen Lebensstandards, was den Energieverbrauch bedeutet, dass wir da zu spät angefangen haben.
Und wenn man die Klimakonferenzen verfolgt, ist das ja immer die Reaktion der Schwellen- und Entwicklungsländer. Die sagen, wir werden nicht auf einen Anstieg verzichten und damit unsere Entwicklung gefährden, wenn die Industrieländer nicht ganz stark reduzieren. – Da liegt der Konflikt.
Michael Groth: Es werden tatsächlich landwirtschaftliche Produkte subventioniert, um sie dann in Biokraftstoff zum Beispiel umzuwandeln. – Stichwort: Tank statt Teller.
Bärbel Dieckmann: Als das eingeführt wurde, glaubte man ja, eine ökologisch sinnvolle Maßnahme zu ergreifen und hat unterschätzt, wie viel Flächen weltweit gekauft, aufgekauft werden, nur um zu produzieren für den Tank. Europa ist mit seinem bisher sieben-, achtprozentigen Anteil, jetzt soll es ja auf fünf gesenkt werden, noch einer der kleineren Verbraucher. Die USA haben eine Beimischung von 30 Prozent. Und das hat eben in vielen Ländern dazu geführt, dass wasserreiche fruchtbare Flächen aufgekauft worden sind, um für den Tank zu produzieren. Und das ist inakzeptabel.
Deshalb ist unser ganz klarer Satz: Es muss zuerst die Ernährung sichergestellt sein, bevor andere Nutzungen stattfinden.
Michael Groth: In dem Zusammenhang fällt wahrscheinlich auch das Stichwort „Land Grabbing“.
"Wir sprechen von Land und Wasser Grabbing"
Bärbel Dieckmann: Ja. Wobei Land Grabbing ja beides ist. Also, Land Grabbing kann für Biosprit genutzt werden, das Land, aber in vielen Fällen bedeutet Land Grabbing auch, dass Nahrungsmittel produziert werden zum Export. Länder wie China oder Vietnam kaufen Land, um für ihre Bevölkerung zu produzieren. Wir selbst sprechen inzwischen von Land und Wasser Grabbing, weil in der Regel Flächen gekauft werden, die auch wasserreiche Flächen sind. Und das entzieht einfach den Menschen die Ernährungsgrundlagen.
Wobei wir auch nicht grundsätzlich gegen Investitionen sind in Entwicklungsländern, auch nicht gegen Investitionen aus anderen Ländern, wenn denn auch die Interessen der Bevölkerung dort berücksichtigt werden. Also, wenn man das gut machen würde, eine landwirtschaftliche Produktion, in der wirklich gute Löhne bezahlt werden, in denen es soziale Sicherungssysteme gibt, in denen die Bevölkerung auch einen Anteil an dem Gewinn hätte, könnte es auch sinnvolle Investitionen geben.
Michael Groth: Sie haben das Stichwort Wasser genannt. Ist Wasser die Ressource, an der sich die Konflikte, ich sage mal, der nächsten 50 bis 100 Jahre entzünden werden?
Bärbel Dieckmann: Ja. Das wird so sein. Das wird im Norden nicht sein. Das wird im Süden so sein. Und es gibt heute schon viele Konflikte, die im Grunde genommen, wenn man dem nachgeht, Wasserkonflikte sind.
Michael Groth: Wie kann man da vorbeugend eingreifen?
Bärbel Dieckmann: Man muss sicher alles tun, um Wasser zu gewinnen und zu konservieren. Es gibt ja viele Länder, in denen es zwei- oder dreimal im Jahr regnet, die nicht nur trocken sind, die aber dann lange Trockenzeiten haben. Da gibt’s eine Menge Methoden, wie man Wasser tatsächlich speichern kann. Wir machen selbst in Kenia Projekte, wo in riesigen Wassertonnen, Behältern Wasser gespeichert wird, mit denen dem die Menschen sich das nächste halbe Jahr versorgen können, weil in vielen Ländern eben das Grundwasser inzwischen so gesunken ist, dass das Brunnenbauen ganz schwer geworden ist. – Und es wird auch da am Ende um Rationalisierung gehen.
Michael Groth: All die Probleme, mit denen Sie konfrontiert sind, sind globale Probleme. Und es gibt die Regierungsorganisationen. Es gibt die so genannten NGO, die Nichtregierungsorganisationen. Zu Letzteren gehören Sie. Macht man sich da auf dem Markt der Entwicklungszusammenarbeit und -hilfe inzwischen auch schon Konkurrenz?
Kein Auf-die-Füße-treten mit anderen
Bärbel Dieckmann: Wir arbeiten in den meisten Fällen gut zusammen. In den meisten Fällen gibt es Koordinationen durch die EU oder durch die UN, wer wo hingeht. Und es gibt ziemlich viel auf der Welt noch zu tun. Also, das Auf-die-Füße-treten ist so etwas, was hier manchmal an die Wand gemalt wird, aber ich habe es nicht konkret erlebt.
Dass das vielleicht im ersten Moment mal nach einer großen Katastrophe sein kann, aber die Wahrheit ist auch da immer, wie jetzt auf den Philippinen: Als wir uns entschieden haben, wo wir hingehen, sind wir in Gebiete gegangen, da war noch kein Helfer gewesen.
Michael Groth: Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Philippinen. Es wurden viele Spenden gesammelt. Auch Ihre Arbeit ist natürlich auf Spenden angewiesen. Wie sinnvoll ist es, diese Spenden zweckgebunden zu machen? Es kann ja der Fall passieren, dass beispielsweise in ein Land dann gar nichts mehr herein kann, das Geld wird aber anderswo gebraucht. Aber wenn auf meiner Überweisung steht „Stichwort Philippinen“, dann möchte ich auch, dass es da hingeht. Wie sinnvoll ist das?
Bärbel Dieckmann: Ja, Menschen wollen sehr oft zweckgebunden spenden. Und deshalb akzeptieren wir das auch. Die wirklich sinnvollere Maßnahme ist sicher, nicht zweckgebunden zu spenden, weil dann noch zielgerichteter das Geld tatsächlich eingesetzt werden kann.
Aber ich habe auch sehr viel Verständnis für Spender und Spenderinnen, die sagen, ich will da was tun. Es gibt übrigens auch Spender, Unterstützerkreise, Freundeskreise… Die wollen ein Projekt haben. Die wollen nach fünf Jahren sagen können, da haben wir was geschafft. Und das ist auch gut. Der Freundeskreis Hamburg ist vor einiger Zeit aus dem Projekt in Äthiopien, das ist beendet worden. Das ist natürlich für den Freundeskreis ein richtig gutes Gefühl. Die haben zehn Jahre da unterstützt, viel Geld gesammelt. Und dann sind die Menschen auf den Weg gekommen.
Also nochmal: Sinnvoller ist nicht zweckgebunden, aber manchmal ist es auch okay, zweckgebunden.
Michael Groth: Vielleicht bleiben wir mal bei so einem kleinen Beispiel. Mit relativ wenig Geld, kleinen Summen, aber regelmäßig, was kann da konkret in einem Land wie Äthiopien geleistet werden?
Man kann Mangelernährung beenden
Bärbel Dieckmann: Es kann geleistet werden in einigen Jahren, dass die Menschen in der Lage sind, sich selbst zu ernähren, dass sie gelernt haben, was sie anbauen können, was sinnvoll anzubauen ist. Man kann sehr oft Mangelernährung beenden oder die Ernährung verbessern, indem zusätzlich Gemüse angebaut wird, bestimmte Früchte. Und sehr oft kann man gehen. Die erzeugen so viel, dass sie auf dem nächsten Markt etwas verkaufen können, dass sie damit ein kleines Einkommen haben. Davon könnten sie wieder das Schulgeld für die Kinder bezahlen, können Medikamente kaufen. Und ehrlich gesagt ist für uns immer der schönste Moment, wenn man irgendwo aufhören kann, wenn man sagen kann, nun ist es gelungen.
Michael Groth: Die Nato bzw. die Bundeswehr zieht Ende kommenden Jahres aus Afghanistan ab. Sie arbeiten in dem Land. Machen Sie sich Sorgen um die Sicherheit Ihrer Mitarbeiter dort?
Bärbel Dieckmann: Also, wir haben in Afghanistan gearbeitet, bevor die Bundeswehr da war. Wir haben jetzt in der Zeit gearbeitet. Wir hoffen, dass wir weiter da gut arbeiten können. Und wir hoffen vor allem, dass die Fortschritte, die gemacht worden sind, nicht zu Rückschritten werden. – Ganz unbesorgt sind wir nicht, und zwar nicht nur wegen unserer Mitarbeiter, das ist auch immer eine große Sorge, die in Ländern arbeiten, in denen es auch Gewalt gibt, sondern wir hoffen auch, dass es für die Menschen selbst in Afghanistan jetzt nicht einen Rückschritt in eine Zeit gibt, die sie nicht mehr wollen.
Wir haben viele Frauen, die selbstbewusst geworden sind, die ihr Leben in die Hand genommen haben. Und das wäre sehr, sehr bitter, wenn das nicht anhalten würde.
Michael Groth: Ein anderes Krisengebiet ist der Nahe und Mittlere Osten. In Syrien scheint eine Generation heranzuwachsen, die nichts anderes als Krieg kennt, die hungert. Inwieweit ist das für Sie wichtig, dann in solchen Fällen auch dort Ihre Arbeit zu verstärken?
Bärbel Dieckmann: Also, Syrien ist für mich ein ganz extremes Beispiel. Wenn mir jemand vor drei Jahren gesagt hätte, die Welthungerhilfe arbeitet mal in Syrien, hätte ich wahrscheinlich gelacht, weil das Länder gewesen sind, in denen es natürlich auch Armut gab, aber in denen die Menschen sich ernähren konnten. Syrien ist ein Kulturland. In Syrien sind Menschen, die zur Schule gegangen sind, die gebildet sind. Und jetzt stürzt dieses Land wirklich in vielen Teilen wirklich in Verelendung, Hunger, Flüchtlinge. Und das ist ja nicht nur in Syrien, wo wir arbeiten, sondern auch in den Flüchtlingslagern. Es sind inzwischen Millionen, die nach Jordanien, in den Libanon, in die Türkei gegangen sind. Und wir erleben da wirklich Hunger.
Michael Groth: Was haben Sie da für konkrete Projekte zurzeit?
"Wir versorgen die Menschen mit Wasser und Mehl"
Bärbel Dieckmann: Wir versorgen die Menschen mit Wasser, aber auch ganz konkret mit Mehl. Wir unterstützen Bäckereien, in denen Brote gebacken werden. Und wir haben in Syrien Schulen, provisorische Schulgebäude gebaut, weil viele Familien auf der Flucht sind. Sie kommen dann notdürftig vielleicht bei Familien, Verwandten unter, aber die Kinder haben keine Möglichkeit zur Schule zu gehen. Und das war eines unserer Ziele, dass die einfach einen halben Tag wenigstens in die Schule gehen können, da was zu Essen bekommen, aber auch weiter lernen können, damit sie irgendwann mal wieder in der Lage sind, wenn es vielleicht doch mal Frieden wieder gibt, auch ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. – Aber Syrien ist schon ein Extrembeispiel, wie plötzlich etwas passieren kann, was man nicht erwartet hat.
Bisschen gehört für uns auch Mali dazu, das ja durch Libyen wieder so unruhig geworden ist, weil viele Malier in Libyen gearbeitet haben, viele Tuaregs als Soldaten in Libyen waren, die dann mit Waffen zurückgekommen sind, aber auch 20.000 andere, die ihre Einkommen, die sie in Libyen verdient haben, an die Familien nach Mali geschickt haben. Und der Norden von Mali ist auch dadurch wieder sehr in Unruhe gekommen.
Michael Groth: Hat sich da was verändert, verbessert durch den Einsatz der Franzosen?
Bärbel Dieckmann: Also, kurzfristig ja. Das war sicher so. Im Moment würde ich da nicht langfristig sagen, dass das damit erledigt ist. Mali war für uns ja ein Land, wo wir überlegt haben, wann wir gehen können, weil das stabil schien. Das sind keine europäisch-demokratischen Verhältnisse, aber stabile politische Verhältnisse. Das passiert auch immer wieder.
Michael Groth: Entwicklungszusammenarbeit drückt sich ja nicht nur in Spenden aus, sondern irgendwo auch in Konsum, den ich persönlich hier betreibe. Beispielsweise wenn ich T-Shirts für drei Euro kaufen will, dann muss ich annehmen, dass die in Südasien irgendwo produziert worden sind unter Bedingungen, die jeder menschengerechten Arbeit spotten.
Bärbel Dieckmann: Ja, das ist ein Problem. Und ich freue mich jedes Mal und wir freuen uns, wenn das wieder Beachtung findet. Also, jetzt einen Abschluss von H&M mit Bangladesch, dass die Näherinnen 62 Dollar im Monat bekommen und damit können die ihre fünfköpfige Familie ernähren, das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Das ist eigentlich absurd, dass Frauen 14 Stunden arbeiten und nicht ausreichend verdienen, um die Familien zu ernähren.
Aber es gibt natürlich auch noch andere Dinge. Der Fleischkonsum ist zu hoch bei uns. Es werden sehr viele Flächen nur angebaut für Tierfütterung. Wir werfen Nahrungsmittel weg, in Deutschland etwa 20 Mio. Tonnen im Jahr, die produziert worden sind, aber nicht den Menschen zugute kommen, die in Hunger leben. – Also, auch wir müssen eindeutig unsere Lebensweisen verändern.
Ich glaube nicht, dass wir schlecht leben müssen. Wir müssen weniger, irgendwie effizienter leben, weniger Fleisch essen, Fair-Trade-Produkte kaufen und vielleicht, wenn wir Kleidung kaufen, einfach gucken, gibt es das Siegel, ist das geprüft. Macht die Firma ohne Kinderarbeit und zahlt die gerechten Löhne? Und dann ist das T-Shirt vielleicht 20 Cent teurer.
Michael Groth: Die Welthungerhilfe gibt 1,9 % für die Verwaltung aus, 6 % für Werbung und Öffentlichkeit. Das sind überschaubare Größenordnungen. Wie sieht’s mit der Rechenschaft aus, wenn die Spender bei Ihnen konkret nachfragen, was passiert mit meinem Geld, wo geht das hin? Wie reagieren Sie da?
Bärbel Dieckmann: Also, das können die jederzeit im Internet nachgucken. Wir haben auch das Spendensiegel. Das ist ganz wichtig für die Organisation. Und das ist bei uns auch ein wichtiges Anliegen bei allen Kollegen und Kolleginnen im Haus, weil wir ganz genau wissen, das Vertrauen der Menschen hängt davon ab, dass sie wissen, dass das Geld wirklich gut ankommt. Und dass es auch ein paar Kosten gibt, dass nicht jeder Euro im Projekt ankommt, ist auch klar, weil man Spendengelder auch nur gut umsetzen kann, wenn man qualifiziertes Personal hat, wenn wirklich Projekte auch fachmännisch durchgeführt werden.
Die Transparenz steht bei uns im Mittelpunkt wirklich bei jeder Rechenschaftslegung.
Michael Groth: Es gibt das BMZ, das Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit, das Außenministerium, das Auswärtige Amt, es gibt das Umweltministerium, das Landwirtschaftsministerium – alle haben irgendwo etwas mit Entwicklungszusammenarbeit zu tun.
Würden Sie sich wünschen, dass das besser koordiniert wird?
Ministerien sollten zusammen arbeiten
Bärbel Dieckmann: Also, ich sag mal so: Wir haben uns gewünscht und das haben wir auch vor den Koalitionsverhandlungen den beiden politischen Parteien und Fraktionen mitgeteilt, dass mehr Kompetenzen im BMZ zusammengezogen werden. Aber ich bin auch realistisch und weiß, dass das immer bedeuten würde, dass man anderen Ministerien Kompetenzen entzieht. Deshalb ist eigentlich unsere Forderung, dass die zusammenarbeiten, dass die Häuser nicht Politik getrennt betrachten. Und es darf eigentlich nicht sein, dass das BMZ etwas tut, was durch eine Maßnahme des Landwirtschaftsministeriums ausgehebelt wird.
Das ist nicht nur im Interesse der Hungernden in der Welt, sondern auch eigentlich im Interesse der Bundesregierung.
Michael Groth: Wir haben von Afrika gesprochen. Wir haben vom Hunger gesprochen. Wir haben von Syrien gesprochen. All das produziert Flüchtlinge, Flüchtlinge, die nach Europa drängen. Wir haben noch die Szenen aus Lampedusa vor Augen. Haben Sie den Eindruck, dass es in Europa auch hier an einer Ernsthaftigkeit, tatsächlich für diese Problematik eine strategische Lösung zu entwickeln, fehlt?
Bärbel Dieckmann: Ich glaube, dass die Verantwortlichen wissen, dass es eine Lösung geben muss. Aber es ist in den einzelnen Ländern nicht so ganz leicht umzusetzen, weil es natürlich auch immer Widerstände gibt. Deshalb ist bei uns die erste Forderung immer, und die halte ich auch für richtig, wir brauchen Migration, Europa braucht Migration, auch weil wir immer weniger werden. Aber viele Menschen wollen auch in ihren Ländern bleiben und ihren Kulturen. Es ist ja nicht so, dass alle Afrikaner nach Europa wollen. Gemessen an der Armut in der Welt, machen sich jetzt gar nicht so viele auf den Weg. Und deshalb muss unser Ziel sein, dass wir so arbeiten, dass die Menschen da bleiben können, wo sie herkommen. Das ist ihr Ziel.
Übrigens verwischen sich natürlich im Moment auch Grenzen. Wir haben in Europa Länder, die ein niedrigeres Bruttoinlandsprodukt haben als manche so genannten Entwicklungsländer, wenn Sie Rumänien oder Bulgarien nehmen oder wenn Sie im Moment Spanien, Griechenland nehmen, wo es auch eine hohe Arbeitslosigkeit gibt, wo es auch Armut gibt, wo es Suppenküchen gibt. Also, auch das verwischt sich ein bisschen. Und deshalb muss das eigentlich das Ziel sein, dass jedes Land in der Lage ist, seine Bevölkerung zu ernähren.
Michael Groth: Aber die Welthungerhilfe hat nicht vor, in Griechenland tätig zu werden?
Bärbel Dieckmann: Nein, ich sage das nur, weil das ein bisschen die Dimensionen verändert, die es in der Welt noch vor 20 Jahren gegeben hat. Es gab den Norden. Das waren die Industrieländer. Es gab Entwicklungsländer und vielleicht Schwellenländer. Inzwischen haben sich die G7 verändert. Bei G20 gibt’s Veränderungen. China ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht hinter den USA. Indien hat große Hungeranteile mit 260 Millionen, ist gleichzeitig ein wirtschaftlich starkes Schwellenland. Und ich glaube, das wird in den nächsten zehn bis 15 Jahren sich noch stärker verändern.
Michael Groth: Sie kämpfen gegen die Folgen von Umweltkatastrophen, Bürgerkriegen, Korruption. Fühlt man sich da manchmal wie Sisyphus?
Bärbel Dieckmann: Ja. Ja, das ist so. Das ist weltweit so, dass man auch manchmal nicht versteht, warum das so ist, dass man denkt, warum können Menschen nicht auch ein Stück bereit sein, ihren Reichtum umzuverteilen. Warum gibt’s keine Steuersysteme in vielen Ländern?
Und dann tröste ich mich ab und zu, wenn ich ganz frustriert bin, damit, dass ich mir sage: Auch in Deutschland gibt es erst seit 60 Jahren eine funktionierende Demokratie. Auch in Deutschland haben wir einen langen Teil unserer Geschichte hinter uns, auf die wir nicht stolz sein können. Und das macht mir immer die Hoffnung, dass ein Weg zur Demokratie möglich ist und auch am Ende stabil sein kann.