"Enttäuschende Erfahrungen"

Heinrich Hannover im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 22.05.2009
Der Strafverteidiger Heinrich Hannover hat sich anlässlich des 60. Grundgesetz-Geburtstages kritisch zu der Verfassung geäußert. Er habe in seiner jahrzehntelangen Strafverteidigerpraxis leider enttäuschende Erfahrungen gemacht, sagte Hannover. Trotzdem wolle er auf das Gesetz "ein Gläschen" trinken.
"Gemäß Artikel 145 verkündige ich im Namen und im Auftrage des parlamentarischen Rates das Grundgesetz …"

Konrad Adenauer am 23. Mai 1949. 60 Jahre Grundgesetz. Hält unsere Verfassung, was sie verspricht?

Klaus Pokatzky: Danach fragen wir in dieser Woche zum Grundgesetz-Geburtstag jeden Tag im "Radiofeuilleton", und heute fragen wir nach Anspruch und Wirklichkeit des Satzes, mit dem unser Grundgesetz beginnt. Heinrich Hannover ist einer der berühmtesten und einer der wichtigsten politischen Strafverteidiger in der Bundesrepublik. Politisch, weil er Jahrzehnte lang Angeklagte in politischen Verfahren verteidigt hat, und politisch, weil er sich auch immer wieder in die Politik und nicht nur in die Rechtspolitik eingemischt hat. Ihn begrüße ich nun am Telefon. Guten Tag, Herr Hannover!

Heinrich Hannover: Guten Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Der Satz, mit dem unser Grundgesetz beginnt. Herr Hannover, kann es schönere politische Prosa geben?

Hannover: Ja, ich war natürlich als junger Mensch damals sehr begeistert von dieser Ankündigung und überhaupt von unserem Grundgesetz, habe dann aber enttäuschende Erfahrungen gemacht, als ich Strafverteidiger wurde. Ich habe als Strafverteidiger zunächst ein Pflichtverteidigermandat für einen Kommunisten übernehmen müssen.

Pokatzky: Wann war das?

Hannover: 1954, kurz nachdem ich zugelassen worden war als Anwalt, wurde mir das zugewiesen. Und ich war damals noch ausgesprochen antikommunistisch eingestellt, aber merkte dann schon als Anfänger, dass das Gericht so voreingenommen gegen meinen Mandanten war, dass es schwer war, Gerechtigkeit durchzusetzen. Und das ist mir auch nicht gelungen. Ja, und dann kamen andere Mandate aus dieser Richtung nach, wo ich ähnliche Erfahrungen machte. Zum Beispiel 1955 gab es eine Stahlhelmdemonstration in Goslar, also eine ganz reaktionäre militaristische Organisation, die auch Tradition in die Nazizeit zurück hatte. Und da sollte ein Generalfeldmarschall der Hitler-Wehrmacht als Redner auftreten, und die Gewerkschaften hatten eine Gegendemonstration gemacht.

Pokatzky: Das war der General Kesselring, der berühmte General Kesselring, richtig?

Hannover: Herr Kesselring, der war von den Alliierten verurteilt worden wegen Kriegsverbrechen und dann begnadigt worden, und nun trat er als Redner auf. Ja, wen schützte die Justiz? Die schützte den General Kesselring und die reaktionären Stahlhelme und meine Gewerkschafter wurden angeklagt wegen Versammlungsstörung.

Pokatzky: Herr Hannover, das war ja nun auch eine Richterschar, eine Juristenschar, die genauso wie Herr Kesselring im Nazisystem noch verstrickt war, dort gewirkt hatten, die dort ihre Vergangenheit hatten …

Hannover: Richtig.

Pokatzky: Das heißt, das war ja eine zusätzliche Belastung dann für die Justiz in den ersten Jahrzehnten ja noch der Bundesrepublik. Wann hörte das auf?

Hannover: Ja, aufhören kann man das nicht nennen. Das Personal aus der Nazizeit starb natürlich allmählich aus, aber der Geist wurde durchaus fortgesetzt. Ich kann eigentlich da keinen Einschnitt feststellen. Zwar 1968 sind einige Gesetze aufgehoben worden, wo sicher auch Gustav Heinemann einen Verdienst hatte als Justizminister.

Pokatzky: Der spätere Bundespräsident.

Hannover: Der spätere Bundespräsident, ja, mit dem ich gut bekannt war. Aber es hat da leider keinen Schlusspunkt gegeben. Sogar nach der Wende habe ich die Erfahrung machen müssen, dass der alte Antikommunismus wieder aufwachte, denn ich habe dann auch Mandate von DDR-Bürgern bekommen, die wegen staatsnaher Tätigkeit angeklagt wurden. Zum Beispiel habe ich den vorletzten Ministerpräsidenten der DDR, Dr. Hans Modrow, verteidigen müssen gegen den Vorwurf, dass er an den Wahlfälschungen beteiligt war. Wahlfälschungen sind natürlich gemacht worden in der DDR. Aber welche Möglichkeiten hatte er damals und hatten andere damals, dies zu verhindern und öffentlich zu machen?

Pokatzky: Wie ist das Verfahren ausgegangen?

Hannover: Das Verfahren ging im ersten Durchgang beim Landgericht Dresden mit der mildesten Sanktion aus, die das Strafgesetzbuch kennt, nämlich Verwarnung mit dem Vorbehalt einer Geldstrafe. Aber das war dem Bundesgerichtshof nicht genug, die Revision wurde das Urteil aufgehoben, und es kam dann, wie der Bundesgerichtshof es gewünscht hatte, eine Verurteilung zu Freiheitsstrafe, die allerdings zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Pokatzky: Was erwarten Sie als Anwalt, wenn Sie jetzt einmal diese 60 Jahre Grundgesetz Revue passieren lassen, in zwei Sätzen zusammengefasst - was erwarten Sie von einem Staat, dessen Grundgesetz mit dem Satz beginnt, "Die Würde des Menschen ist unantastbar."?

Hannover: Ich erwarte, dass die Staatsgewalt alle Staatsbürger wirklich gleich behandelt und keine Unterschiede macht nach Geschlecht, nach politischer Gesinnung, nach Religion, und das ist leider nicht erfolgt. Zu jedem dieser Punkte fallen mir Fälle ein, in denen ich schlechte Erfahrungen gemacht habe. Auch zum Beispiel religiöse Intoleranz gegenüber Zeugen Jehovas habe ich als Anwalt erlebt. Ich habe Zeugen Jehovas verteidigt, weil sie auch den zivilen Ersatzdienst verweigerten, und habe da auch erleben müssen, dass diese Menschen ins Gefängnis mussten, weil sie ihrer Glaubensüberzeugung treu bleiben wollten. Also überall ist mir begegnet diese, ja, alte staatstreue Gesinnung, die es nicht zulassen will, dass Menschen sich frei entfalten.
Pokatzky: Ich spreche mit dem Rechtsanwalt Heinrich Hannover zum 60. Geburtstag unserer Verfassung über ihren ersten Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Herr Hannover, Sie haben gerade die Zeugen Jehovas angesprochen, aber ist das nicht sozusagen Schnee von gestern, wenn wir etwa an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor einigen Jahren denken, das eine Diskriminierung der Zeugen Jehovas, was ihre Religionsgemeinschaft und Kirche angeht, untersagt hat.

Hannover: Na ja, das Bundesverfassungsgericht hat eines Tages einen Riegel vorgeschoben, insbesondere die wiederholte Verurteilung der Zeugen Jehovas verhindert, aber es hat jahrelang eine Praxis der Verurteilung gegeben. Und ich frage mich da nachträglich, haben diese Richter sich dann eigentlich nachträglich geschämt, nachdem sie vom Bundesverfassungsgericht anders belehrt worden sind?

Pokatzky: Wenn Sie jetzt aber unser Grundgesetz im Jahr 2009 sehen, würden Sie dann auch noch dieses harte Urteil, das Sie ja jetzt gesprochen haben über eine lange Periode der bundesrepublikanischen Geschichte, würden Sie das auch fürs Jahr 2009 so formulieren?

Hannover: Ich sehe die Menschenwürde immer wieder gefährdet. Denken Sie doch bloß daran, dass wir in unserer Gegenwart mit einem Folterlager Guantanamo leben müssen. Es ist doch unglaublich, dass so was wieder möglich ist, nachdem es einen Nazistaat gegeben hat mit KZs, in denen Menschen auch ohne Anklage gesessen haben und doch eigentlich die Menschheit einig war, das darf sich nicht wiederholen. Und es wiederholt sich doch.

Und Kriege! Sehen Sie mal, ich bin als 17-jähriger Soldat in der Hitler-Wehrmacht gewesen, bin zum Töten abgerichtet worden, habe das nachträglich als furchtbar empfunden und bin lebenslänglich überzeugter Pazifist und Antimilitarist geworden. Und dann habe ich erlebt, dass wieder aufgerüstet wurde, dass wieder Menschen zu Kriegen ausgebildet werden. Ja, und heute werden Soldaten in alle Welt geschickt, es wird behauptet, dass die Freiheit am Hindukusch verteidigt werden muss. Stellen Sie sich mal vor, die Milliarden, die diese Kriege kosten, wenn die in soziale Objekte in diesem Staat gesteckt worden wären, wäre damit nicht der Menschenwürde mehr gedient gewesen?

Pokatzky: Herr Hannover, Sie sprachen das Stichwort Folterdebatte an. Es ist sicherlich ein ganz großes Problem, wenn bei uns – das sagen ja auch ganz viele Juristen – Aussagen verwendet werden, die in anderen Ländern mithilfe von Folter erzwungen wurden. Andererseits, wenn wir jetzt denken an unsere bundesrepublikanische Folterdebatte vor einigen Jahren, als es darum ging, im Falle des entführten Sohnes des Frankfurter Bankiers von Metzler, des kleinen Jakob, der dann später umgebracht wurde, da hatten wir doch in unserem Lande im Grunde ein Konsens, dass Folter nach wie vor ein Tabu ist und bei uns auf keinen Fall angewendet werden darf. Ist das nicht ein Fortschritt?

Hannover: Das ist ein Fortschritt. Aber war dieser Konsens wirklich allgemein? Da habe ich Zweifel. Ich habe auch Gegenstimmen in Erinnerung. Und das hat mich doch sehr betrübt. Eigentlich müssten wir einig sein, dass es Folter nicht mehr geben darf, auch wenn einzelne Fälle denkbar sind, wo sie Nutzen bringen könnte. Dass es Todesstrafe nicht mehr geben darf, auch das eine furchtbare Entwürdigung des Menschen, eine Hinrichtung. Also Dinge, die nun leider, aber immer noch in der Welt passieren, insbesondere auch in den USA, mit denen wir uns politisch verbündet fühlen. Das macht mich doch sehr traurig.

Pokatzky: Aber wenn wir jetzt an unser Grundgesetz, an unsere Verfassung denken, gerade Satz 1, "Die Würde des Menschen ist unantastbar", der ja zu den nicht veränderbaren Artikeln unseres Grundgesetzes gehört, der untersagt doch grundsätzlich und verbietet grundsätzlich sowohl Folter als auch die Todesstrafe.

Hannover: Gott sei Dank, Gott sei Dank verbietet er’s, und ich hoffe, dass es auch dabei bleiben wird. Man hat ja immer wieder Diskussionen darüber gehabt, ob nicht doch Todesstrafe wieder eingeführt werden solle. Da hat es also wichtige Stimmen innerhalb der CDU zum Beispiel gegeben.

Pokatzky: Wann war das?

Hannover: Na, das liegt lange zurück. Da gab’s doch mal diesen Herrn Jäger, der es sogar zum Justizminister gebracht hatte, der für die Todesstrafe war. Also es hat immer wieder Stimmen gegeben, auch diese Dinge zu ändern, obwohl sie, wie Sie ganz richtig sagen, nach dem Wortlaut des Grundgesetzes unveränderlich für alle Ewigkeit gelten sollten.

Pokatzky: Aber diese Stimmen liegen ja nun wirklich Jahrzehnte zurück, Herr Hannover. Was sagt das für das Jahr 2009, in dem unser Grundgesetz 60 Jahre alt wird?

Hannover: Ja, ich kann nur hoffen, dass es heute eine allgemeine Meinung gibt, dass die Menschenwürde es verbietet zu foltern, dass es verbietet, die Todesstrafe zu vollstrecken. Und ich hoffe, dass sich auch die Meinung durchsetzen wird, dass sie es verbietet, Kriege zu führen, Soldaten auszubilden zum Töten anderer Menschen, dass die Menschen endlich begreifen, dass sie in Frieden miteinander auskommen müssen und dass sie nicht die Interessen der Rüstungsindustrie zu bedienen haben.

Pokatzky: Herr Hannover, ist unser Grundgesetz ein Grund zum Feiern?

Hannover: Ja, also ich feiere es gerne, ich feiere es besonders dann gerne, wenn alle Menschen es wirklich so ernst nehmen, wie es ernst genommen werden muss. Und wenn die Verfassungswirklichkeit dann auch wirklich übereinstimmt mit dem, was der Buchstabe des Gesetzes sagt. Und da habe ich in meiner 40-jährigen Strafverteidigerpraxis eben leider enttäuschende Erfahrungen gemacht, die ich auch in meinen Memoiren, "Die Republik vor Gericht", ausführlich geschildert habe.

Pokatzky: Aber als Altersweiser jetzt doch mehr im Ruhestand befindlicher Jurist: Werden Sie morgen feiern?

Hannover: Ich werde ganz privat feiern.

Pokatzky: Auch das Grundgesetz?

Hannover: Ja, auch auf das Grundgesetz werde ich ein Gläschen trinken.

Pokatzky: Danke an Heinrich Hannover. Morgen hören Sie von 9 bis 11 im "Radiofeuilleton" im Gespräch Paul Kirchhof, den ehemaligen Bundesverfassungsrichter, und Lore Maria Peschel-Gutzeit, die frühere Justizsenatorin in Hamburg und Berlin.