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Andor Endre Gelléri: Die Großwäscherei
Ungarischer Roman mit federnder deutsche Sprache

Andor Endre Gelléri, geboren 1906 in Budapest, galt in Budapester Literaturkreisen als Wunderkind. In seinem Roman "Die Großwäscherei" schildert er menschenunwürdigen Bedingungen der Arbeiter im Frühkapitalismus. Jetzt ist eine neue deutsche Übersetzung erschienen.

Von Lerke von Saalfeld | 12.02.2016
    Blick vom Burgberg auf die Donau und das Parlamentsgebäude am 11.12.2013 in Budapest (Ungarn) bei Sonnenuntergang am Abend.
    Blick vom Burgberg auf die Donau und das Parlamentsgebäude in Ungarns Hauptstadt Budapest (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene)
    In den Zwanziger Jahren und zu seinen Lebzeiten war er sehr bekannt in Ungarn und vor allem in Budapester Literaturkreisen, weil er ein bisschen als Wunderkind galt. Die großen Schriftsteller, die wir kennen, wie Dezsö Kosztolányi, Milán Füst oder auch Mihály Babits, die waren 15 / 20 Jahre älter als er, repräsentierten eine ganz andere Art von Literatur, und plötzlich kam dieser junge Schriftsteller, der aus der Arbeiterklasse stammte und hatte so einen ganz anderen Ton. Und sofort mit seiner ersten Erzählung 1924 – er war achtzehn Jahre alt – da wurden alle sehr aufmerksam auf ihn, und es war zeitlebens so, dass sich alle mit Interesse seinem Werk und seinen Erzählungen zuwendeten.
    In den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts veröffentlichte Gelléri vier Bände Erzählungen, sein Hauptwerk, und er veröffentlichte einen Roman: "Die Großwäscherei". Dieser Roman erschien zunächst 1930 als Fortsetzungsroman in einer Zeitung, 1931 folgte die Buchform. Der Autor war erst 25 Jahre alt und ließ die literarische Welt aufhorchen. In der damals berühmten, richtungweisenden Literatur-Zeitschrift "Nyugat" (zu deutsch Westen), in der die Avantgarde der urbanen ungarischen Schriftsteller schrieb, bot man ihm schnell Raum für seine Novellen an. Er war ein realistischer Autor voller märchenhafter Anspielungen, das Leben der Arbeiter und der kleinen Leute fesselte sein Interesse. Der damals schon hoch angesehene Romancier Dezsö Kosztolányi charakterisierte seinen Stil als "feenhaften Realismus", ein Etikett, das Gelléri nicht mehr loswurde und das eher auf seine frühen Erzählungen zutrifft.
    Charakteristisch aber ist für den Autor, er hüllt den Realismus in Visionen und Träume seiner Figuren, sodass sie etwas Leichtes, Tänzerisches erhalten, auch wenn ihr Leben düster und beschwerlich ist. Gelléri selbst konnte von seiner Schriftstellerei nicht leben, er verdingte sich in verschiedensten Hilfsarbeiterjobs – dabei sammelte er das Anschauungsmaterial für seine literarischen Figuren, lernte hautnah das atmosphärische Milieu der Arbeiterwelt kennen.
    In der Großwäscherei Phönix in Budapest arbeiten hundert Angestellte, zusammengepfercht in fünf Räumen, umgeben von heulenden Wäscheschleudern, grollenden Maschinen, giftig dampfenden Kesseln, eingehüllt in den beißenden Geruch von Chemikalien. Gelléri wusste worüber er schrieb, denn er hatte selbst drei Jahre als Färber in einer Wäscherei gearbeitet. Die Löhne der Arbeiterinnen und Arbeiter waren erbärmlich, die gesundheitlichen Bedingungen katastrophal, die Wohnverhältnisse menschenunwürdig - das Leben eine einzige Schinderei. Der Heizer Tir hat gelesen, in China sei Revolution, er träumt davon, dass auch auf Ungarn der Funke überspringen möge; der Waschmeister Angelov hat jede Hoffnung verloren, er vergiftet sich mit Schwefelsäure und Chlor an seinem Arbeitsplatz, jede Hilfe kommt zu spät. Die antikapitalistischen Akzente, die Gelléri setzt, sind durchdrungen von der Sehnsucht nach Menschlichkeit und einer gerechteren Welt. Die Übersetzerin Timea Tankó betont:
    "Gelléri hat sich als Missionar gesehen, er stammte ja selbst aus der Arbeiterklasse, und er hat auch gesagt, dass er durch seine Literatur den Menschen etwas Gutes tun will. Er hat nicht gesagt, dass er ihr Leben verändern möchte, sondern dass sie überhaupt präsent sind in der Literatur. Dass er ihnen dadurch, wie er das Leben beschreibt, zu einer bestimmten Würde verhilft, und das ist das Interessante, dass diese Figuren niemals Opfer sind. So schlimm das auch ist, was sie erleben, trotzdem hat man das Gefühl, dass das Menschen sind, die genauso Entscheidungen fällen wie andere, und auch wenn Entscheidungen über sie gefällt werden, gibt es immer bestimmte Momente in ihrem Leben, in denen sie frei oder noch viel freier als andere sind. Diese Figuren erscheinen oft viel freier als der Taube."
    Jenö Taube ist der allgewaltige Patriarch, der über die Dampfwäscherei herrscht. Er ist ein jüdischer Emporkömmling und genießt zunächst seine Macht. Siebenhundert seiner Arbeiterinnen will er sexuell vernascht haben, sein Verhältnis zu den Nutten und der Puffmutter Ilcsi ist herzlich. Taube bekommt, was er will, denn er hat Geld und Verfügungsgewalt. Er hat auch die Vision der Reinheit: seine Wäscherei macht alles sauber und weiß, verleiht den Dingen wieder eine Unschuld, während die Arbeiter in seinen Augen immer schmutziger und zerlumpter werden. Dass er selbst die Ursache für die Unreinheit ist, erkennt Taube erst gegen Ende seines Lebens, so wie er auch erkennt, das Geld, das er so vergötzt hat, ist die Ursache allen Übels, man müsste es, so Taube, mit militärischen Mitteln bekämpfen – das ist wieder so eine der Gellérischen Phantasien, das Geld, das sich wie ein Lebewesen verselbständigt.
    Der mächtige Taube verzweifelt zum Schluss. Er versucht in hebräischen Gebeten sein Seelenheil zu finden, vergebens, will sich aufhängen, auch dies misslingt, und zu guter Letzt steigt er in eine riesengroße Wäschetrommel. Der Roman endet mit einem grauslichen Bild: "Die Trommel drehte ihre Kreise auf der Achse und schleuderte, wie dreckige Wäsche, den Eigentümer des Phönix umher. Die Maschine lief und klagte wie ein Mensch, und sie drehte sich, drehte sich wie die Erde. Sie lief und spuckte Blut wie die Kriege."
    Die Großwäscherei ist symbolhaft die Drehscheibe der Welt. Sie wirbelt das Leben durcheinander, mal oben, mal unten. Als es plötzlich schneit, scheint sich Ruhe über das Geschehen zu legen, eine sanfte weiße Decke hüllt die Welt wie in einem Zauber ein, aber die Arbeiter wissen zugleich, es wird kalt, sie werden frieren, weil sie kein Geld zum Heizen haben. Für den Unternehmer Taube ist die Schneedecke für einen trügerischen Moment die Erlösung vom Schmutz und Unrat seiner Umgebung. Immer wieder spielt Gelléri mit ungewöhnlichen Bildern und Traumsequenzen, taucht die Menschen in surreale Phantasien, befreit sie aus der bedrückenden Wirklichkeit. Gelléri hat einen eigenen sprachlichen Kosmos geschaffen, den die Übersetzerin Timea Tankó als 'Gellérismus' bezeichnet:
    Die größte Herausforderung war, zu reproduzieren, wie Gelléri verschiedene Wörter nebeneinander bringt, die eigentlich sehr fern voneinander sind, und wie man diese Visionen erzeugen kann, ohne dass es verkrampft wirkt. Es ist das Erstaunliche – ich würde nicht einmal sagen mutig, denn das sind keine bewussten Entscheidungen bei ihm gewesen, man hat das Gefühl, dass er sehr aus dem Bauch heraus geschrieben hat und genau dieses Gefühl musste man finden. Ich hatte das Gefühl, dass ich aus dem Gellérischen übersetzen muss, dass dies eine ganz eigene Sprache ist. Ich konnte auch kein Beispiel in der ungarischen Literatur dafür finden, dass irgendjemand anderes die Sprache so verwendet wie er. Ich hatte im ersten Moment die Befürchtung, nur beim Lesen, da habe ich gedacht, dass Manches vielleicht zu altbacken klingt, ich wollte es aber auch nicht zu sehr modernisieren. Dieses Gleichgewicht zu finden, wie sehr man sich von diesen Formulierungen entfernt, die im Ungarischen oft etwas Verspieltes haben, und das möchte man reproduzieren, aber im Deutschen kann das oft auf ein Unverständnis treffen. Als ich aber diesen Ton gefunden hatte, war das gar nicht mehr so schwierig. Es gab immer so Momente wo ich gedacht habe, am Anfang hätte ich mich das nicht getraut, aber jetzt geht es und ich weiß, dass es geht.
    Gelungen ist ein leichter, federnder Text, dem man die Mühen der Übersetzung der gellérischen Besonderheiten nicht anmerkt. Der Leser spürt vielmehr, hier schreibt ein großes Talent, hier entfaltet ein suggestiver Erzähler seine hohe Kunst. Ab 1940 verstummte Gelléri, er wurde als Jude verschleppt in Arbeitslager, 1944 folgte die Deportation in ein Konzentrationslager. Er starb unmittelbar nach der Befreiung an Flecktyphus. Gelléri wurde nur 39 Jahre alt. Letzte Zeugnisse seiner schriftstellerischen Arbeit sind Fragmente einer Autobiographie, die seine Witwe in den Fünfziger Jahren unter dem Titel "Geschichte eines Selbstgefühls" herausgab.
    Andor Endre Gelléri: Die Großwäscherei
    Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Timea Tankó
    Guggolz Verlag, 223 Seiten, 22,00 Euro