Entmythisierter Mythos

Rezensiert von Gertrud Lehnert · 28.10.2005
Der Berlin Verlag hat zusammen mit 31 Verlagen aus aller Welt eine neue Buchreihe ins Leben gerufen: "Die Mythen". Zeitgleich erscheinen in den nächsten Jahren in den verschiedenen Sprachen und Ländern die Adaptationen unterschiedlicher Mythen der Welt durch zeitgenössische Autorinnen und Autoren.
Die ersten Bände erschienen am 21. Oktober 2005: eine kurze Einführung in die Geschichte des Mythos durch die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong, Jeannette Wintersons Bearbeitung des Mythos von Atlas und Herkules, Victor Pelewins Erzählung von Theseus und dem Minotaurus und Margaret Atwoods "Penelopiade".

Anders als in der um 700 v. C. entstandenen, aus 24 Büchern bestehenden "Odyssee" des Homer steht nicht der strahlende männliche Held Odysseus mit seinen Irrfahrten und (Liebes-) Abenteuern im Mittelpunkt, sondern die scheinbar unauffällige Ehefrau und Mutter Penelope, die zu Hause geblieben ist und mit unverbrüchlicher Treue 20 Jahre lang auf die Heimkehr ihres Mannes wartet.

Mehr als 100 Bewerber um ihre Hand nisten sich 10 Jahre lang in ihrem Hause ein, leben auf ihre Kosten und setzen sie derart unter Druck, dass sie zu einer List greifen muss. Sie erklärt, sie müsse ein Leichentuch für ihren Schwiegervater weben; erst wenn dieses fertig gestellt sei, werde sie einen der Bewerber erhören. Tagsüber webt sie, nachts löst sie das Gewebe wieder auf, so dass das Tuch nie fertig werden kann.

Odysseus kehrt als Bettler verkleidet zurück und richtet ein Gemetzel unter den Freiern an. Außerdem tötet er 12 Mägde, die angeblich mit den Freiern gemeinsame Sache gemacht hatten, also anders als seine Gattin treulos waren.

Nicht nur ihre Treue und Häuslichkeit, sondern auch die Tätigkeit des Webens ließen Penelope durch die Jahrhunderte zum Vorbild von Weiblichkeit in einer patriarchalen Kultur werden. Jedoch gab es immer wieder Versuche, sie zu verunglimpfen, ihr heimliche Untreue und Verhältnisse mit sämtlichen Bewerbern zu unterstellen.

An solchen Brüchen setzt Atwood an. In ihrem Vorwort erklärt sie, sie interessiere sich für die ungelöste Frage, was Penelope wirklich gedacht und getan habe und warum die Mägde wirklich sterben mussten. In ihrer Version haben sie als Sklavinnen Penelopes nur deren Befehle ausgeführt und die Freier ausspioniert - und gerade wegen dieser auch sexuellen Kontakte werden sie von Odysseus, der die Hintergründe nicht kennt, umgebracht.

Penelope tut nichts, um sie zu retten. Sie behauptet, sie habe das Blutbad verschlafen, weil ihr ohne ihr Wissen ein Schlaftrunk verabreicht worden sei - das mögen wir glauben oder nicht. Tatsächlich erzeugt der Text eine gewisse Zweideutigkeit; zumindest lässt er die Möglichkeit offen, dass die sonst so umsichtige Penelope aufgrund einer gewissen Unbedachtheit mitschuldig wird am Tod ihrer jungen Mägde.

Atwood überlässt Penelope nach deren Tod selbst das Wort; in Zwischenkapiteln skandieren die 12 toten Mägde die Erzählung durch ihren Kommentar wie ein Chor in der antiken Tragödie. Penelope spricht aus der Unterwelt zu uns. Sie weiß Bescheid über das moderne Leben und befleißigt sich einer modernen, ironischen, zuweilen fast schnoddrigen Sprache.

Der kurze Text ent-mythisiert den Mythos, macht aus Königen Grundbesitzer und Raufbolde, aus Zauberinnen und verzauberten Inseln und mythischen Abenteuern Prostituierte und Bordelle und pure Abenteuerlust und aus Königinnen machtlose Objekte der Heiratspolitik. Das entspricht Erkenntnissen der Alltags- und Mentalitätsgeschichte und der Sozialgeschichte à la Norbert Elias.

Der Versuch, die randständigen oder verteufelten Frauen ins Zentrum des Geschehens zu rücken, sie ihre eigene Version der großen Geschichte erzählen und sich selbst rehabilitieren zu lassen, ist nicht zuletzt durch Christa Wolfs "Kassandra" und "Medea" vertraut. Während Wolf indessen die Geschichten völlig umdeutet, fügt Atwood der Geschichte der Penelope wenig Neues hinzu. Sie modernisiert sie ein wenig, verleiht ihr ein paar moderne Gedanken und Gefühle und bringt sie den Leserinnen und Lesern damit näher.

Aber all zu viel Ehrenrettung ist hier ohnehin nicht nötig, denn Penelope ist nun einmal keine Seherin, die Unheil nicht abwenden kann, und keine verlassene Ehefrau, die aus Eifersucht ihre Kinder tötet. Penelope ist eine scheinbar völlig uninteressante, passive Frau, die es interessanter zu machen gilt, indem ihr eine Stimme und eigenständige Gedanken zugestanden werden.

Margaret Atwood: Die Penelopiade
Deutsch von Malte Friedrich,
Berlin Verlag 2005,
173 S., 14,40 €