Dienstag, 16. April 2024

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Nach dem Putsch
"Wir erleben ein seltenes Schauspiel in der Türkei"

In der Türkei werde im Namen der Demokratie die Demokratie abgeschafft, sagte Jo Leinen (SPD) im DLF. Das habe nichts mit einer Aufarbeitung des Putschs zu tun, sondern damit, Medienfreiheit und Justizfreiheit abzuschaffen und damit die Grundpfeiler der Demokratie zu beseitigen. Trotzdem dürfe man den Kontakt mit dem Land nicht abreißen lassen.

Jo Leinen im Gespräch mit Peter Kapern | 28.07.2016
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen, von der Seite aufgenommen, sprechend und mit einer Hand gestikulierend.
    Die Türkei schade sich gerade am meisten selbst, glaubt der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen (imago/stock&people/Becker&Bredel)
    Peter Kapern: Wer mit Notstandsdekreten regiert, muss den Alarmpegel beständig hochhalten. Heute Vormittag ließ der türkische Justizminister die Sirenen schrillen: Man habe Geheimdienstinformationen, wonach Fethullah Gülen, der Erzfeind des türkischen Staatspräsidenten Erdogan, seine Flucht aus den USA vorbereite. So der Minister. Aber warum eigentlich Flucht? Schließlich ist Gülen ja bislang ein freier Mann in den USA. Gut möglich, dass Ankara lediglich den Druck auf Washington erhöhen möchte, Gülen wie gefordert an die Türkei auszuliefern. Erdogans Hausputz geht unterdessen weiter. Zu Dutzenden verbietet der Machthaber Fernsehsender, Zeitungen und Radiostationen. Mitgehört hat der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Guten Tag, Herr Leinen!
    Jo Leinen: Guten Tag, Herr Kapern.
    Kapern: Herr Leinen, gestern hat es Dutzende Haftbefehle gegen Journalisten in der Türkei gegeben. Heute werden zu Dutzenden Medienhäuser geschlossen. Wann ist eigentlich der Zeitpunkt gekommen, um festzustellen, dass die Türkei keine rechtsstaatliche Demokratie mehr ist?
    Leinen: Wir erleben ein seltenes Schauspiel in der Türkei, dass im Namen der Demokratie die Demokratie abgeschafft wird. Und was da in diesen Tagen passiert, hat nichts damit zu tun, den Putsch aufzuarbeiten, sondern sicherlich die Medienfreiheit abzuschaffen, die Justizfreiheit abzuschaffen, also Grundpfeiler der Demokratie in der Türkei zu beseitigen.
    "Das Rezept von autoritären Herrschern ist immer das Gleiche"
    Kapern: Haben Sie jemals einen so entschlossenen Kampf gegen die Medienfreiheit irgendwo auf der Welt erlebt?
    Leinen: Zumindest nicht in Europa. Wir haben zwar verschiedene Länder, wo auch die Medienfreiheit sehr kritisch ist. Das beginnt leider auch dem EU-Land Ungarn und wenn man an das Putin-Russland denkt, dann ist ja da auch eine Gleichschaltung der Medien. Das Rezept von autoritären Herrschern ist immer das Gleiche: kritische Stimmen ausschalten, einen gleichförmigen Ton im Land zu produzieren und dann die Macht komplett auszuüben, und das hat nichts mit Demokratie zu tun.
    Kapern: Und die EU tut nichts oder so, als sei nichts, und lässt ihre Beamten weiter über einen Beitritt mit der Türkei zur EU verhandeln?
    Leinen: Ja das ist in der Tat eine kritische Frage. Bricht man jetzt alle Brücken ab? Redet man nicht mehr mit der Türkei? Oder gibt es da noch irgendwelche Kontakte, die weiterführen können? Und ironischerweise sollen ja die nächsten Verhandlungskapitel Rechtsstaat und Bürgerrechte sein, und da muss man sich in Europa überlegen, was will man mit der Türkei. Will man sie jetzt aufgeben, sagen, es hat alles keinen Zweck, die sollen dann machen was sie wollen in Ankara und in Istanbul? Oder hat es noch Zweck, diesen Gesprächsfaden aufrecht zu erhalten, um nach diesen hitzigen Tagen und Wochen vielleicht auch noch mal etwas zu reparieren und wieder in den Normalzustand zu bringen.
    Kapern: Jetzt haben Sie die Fragen formuliert. Aber mir käme es eigentlich darauf an, dass Sie sie beantworten.
    Leinen: Ja, ich bin der Meinung, dass wir den Kontakt nicht abreißen lassen sollen. Die sich jetzt zu Wort melden waren eigentlich schon immer dagegen, dass wir mit der Türkei reden oder mit ihr verhandeln. Das ist kurzfristig und emotional gesehen vielleicht begreifbar, aber wer über den Tellerrand und über den Tag hinausschaut, der muss schon sehen, dass die Türkei ein sehr wichtiges Land für Europa ist und dass wir Interesse daran haben, nach diesen heißen, hitzigen Tagen mit all den Unrechtmäßigkeiten vielleicht auch noch mal in ein Fahrwasser zu kommen, wo auf diesen Kapiteln, Rechtsstaat, Bürgerrechte und dergleichen mehr, wir eine europäische Türkei bekommen und nicht, was ja droht, eine islamistische Türkei. Das nützt Europa nichts.
    "EU-Beitritt der Türkei ist jetzt noch weiter weggerückt"
    Kapern: Aber ich versuche, mir das jetzt vorzustellen, Herr Leinen. Da beginnen demnächst die Gespräche über die Verhandlungskapitel Rechtsstaat und dann sitzen sich dort türkische und europäische Beamte gegenüber und die europäischen Beamten elaborieren ein bisschen und nach einer Stunde sagen die Türken auf einmal, ups, so haben wir das ja noch nie betrachtet, jetzt nehmen wir die Eingriffe in die Meinungs- und Pressefreiheit wieder zurück?
    Leinen: Es wäre ja nicht der erste Rechtsstaatsdialog, den wir mit nichtdemokratischen Regimen führen. Wir haben jetzt gerade den dritten Rechtsstaatsdialog noch mal neu beschlossen mit China. Da sitzen wir auch gegenüber …
    Kapern: Aber China möchte nicht Mitglied der Europäischen Union werden.
    Leinen: Das ist wohl richtig, das ist wohl wahr. Und der Beitritt der Türkei, das ist ja nun auch wirklich jetzt noch weiter weggerückt. Es geht gar nicht um den Beitritt, sondern es geht um Kapitel, die es ermöglichen, trotz allem, was da jetzt gerade passiert, die Türkei an den Standard der EU wieder heranzuführen und vielleicht auch davon zu überzeugen, dass das die besseren Standards für das Land sind.
    "Die Türkei schadet sich ja gerade am meisten selbst"
    Kapern: Aber Herr Leinen, muss die EU nicht auch einen Blick nach innen wenden, auf die eigenen Bürger schauen und Sorge tragen, dass sie in deren Augen nicht förmlich eine Selbstverzwergung exerziert, indem sie einfach ohne spürbare Konsequenzen den Weg der Türkei zur autoritären Despotie hinnimmt?
    Leinen: Die Türkei schadet sich ja gerade am meisten selbst. Wir sehen ja, dass die Währung eingebrochen ist, dass Investitionen drohen wegzufallen. Sicherlich hat die EU auch Hebel, was finanzielle Mittel angeht, dort wirklich, sagen wir mal, Klartext zu reden. Die große Frage ist, bricht man alle Brücken ab, sagt man jetzt Nein zu weiteren Gesprächen mit der Türkei. Ich bin der Meinung, …
    Kapern: Es ist aber doch, Herr Leinen, die Türkei, die die Brücken abbricht. Der deutsche Botschafter in Ankara, der bekommt nicht einmal mehr einen Termin bei irgendeiner Institution in der Türkei.
    Leinen: Ja gut, es war ein Putsch. Gehen wir mal davon aus, es war ein Putsch, der von Militärs auch wirklich inszeniert wurde und nicht auf anderem Wege zustande gekommen ist. In jedem Land, wo ein Putsch stattgefunden hätte, würde die Regierung natürlich auch drastisch durchgreifen. Nur was wir da jetzt erleben, ist übermäßig exzessiv und spricht nicht gerade für einen guten Rechtsstaat in der Türkei. Ich würde gerne auch noch mal sehen, wie sich das entwickelt, ob da Beruhigung eintritt und wir auch dann die Chance haben, noch mal normal miteinander zu reden. Das ist im Moment sicherlich nicht möglich.
    Kapern: Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen heute Mittag im Deutschlandfunk. Herr Leinen, vielen Dank für Ihre Einschätzungen, danke und einen schönen Tag noch.
    Leinen: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.