England

Göttin der Liebe mit altdeutschen Idealmaßen

Das Bild "Venus und Amor als Honigdieb" von Lucas Cranach dem Älteren untersuchen Expertinnen des Städel-Museums in Frankfurt am Dienstag (20.11.2007).
Das Bild "Venus und Amor als Honigdieb" von Lucas Cranach wird in Frankfurt am Main untersucht. © picture alliance / dpa / Foto: Boris Roessler
Von Walter Bohnacker  · 18.02.2014
Als merkwürdig empfand man auf der Insel lange die Werke von Albrecht Dürer, Lucas Cranach und anderen. Nur selten galten sie als "schön". Mit "Strange Beauty" startet die National Gallery einen neuen Annäherungsversuch.
Die Porträts Hans Holbein des Jüngeren, er war Hofmaler Heinrich des Achten, gehören mit zum Besten, was Englands führende Museen in Sachen deutsche Renaissancekunst zu bieten haben: Victoria & Albert und British Museum, das Ashmolean in Oxford, die Royal Collection.
Sie alle sind in der Ausstellung mit Leihgaben vertreten: hier die “Anna von Kleve”, dort “Christina von Dänemark” und daneben ein Porträt des Holbein-Gönners Erasmus von Rotterdam.
Das vielleicht berühmteste Gemälde des Künstlers, “Die Gesandten” aus dem Jahr 1533, befindet sich seit 1890 im Besitz der National Gallery. Dazu die Kunsthistorikerin und Ko-Kuratorin der Schau, Jeanne Nuechterlein.
“Holbeins Porträts sind um vieles naturalistischer als die seiner Zeitgenossen. Was seine englischen Abnehmer so faszinierte, war nicht die Ausdruckskraft der Bilder, sondern ihre mikroskopische, fast fotografische Detailgenauigkeit.”
Ganz anders malte Lucas Cranach der Ältere. Eines seiner Bilder schmückt das Plakat zur Ausstellung und den Katalog: “Venus mit Amor als Honigdieb”, ein Werk aus dem Jahr 1537.
Zu sehen ist die Göttin der Schönheit und Liebe mit altdeutschen Idealmaßen. Nur mit Hals- und Kopfschmuck bekleidet, modelt die Dame unter einem Baum mit Früchten, Äpfeln vermutlich.
Gesicht und Oberkörper der Göttin sind dem Betrachter zugekehrt. Mit einem Fuß stützt sie sich an einem Ast, der sich zwischen ihre Beine schlängelt. Den linken Arm hat sie hochgestreckt zu einem Zweig über ihr. Die National Gallery erwarb das Gemälde 1963.
“Damals entschloss man sich ganz gezielt zum Ausbau der Sammlung deutscher Malerei. Davor lagen zwei Weltkriege, und kaum jemand auf der Insel hatte großes Interesse an Kunst aus Deutschland.”
"Im Garten der Lüste"
Selten gab sich eine Venus so sphinxhaft, so verführerisch und lasziv wie hier. In Cranachs Garten der Lüste sprüht es vor Erotik! Zur selben Zeit – mitten in der Reformation – arbeitete man südlich der Alpen ganz anders.
“Cranachs Ideal femininer Anmut und Schönheit – groß, superschlank, mit dezidierten Rundungen an den entscheidenden Stellen – ist typisch deutsche Renaissance. Kein Italiener hätte je so gemalt.”
Zumal kein Raffael! Seine “Heilige Katharina von Alexandrien” erstand die Nationalgalerie 1839 – also immerhin schon fünfzehn Jahre nach ihrer Gründung.
Nicht in der deutschen Malerei, sondern in der italienischen Renaissance und in den Werken der niederländischen und flämischen Künstler des 16. Jahrhunderts sahen die Viktorianer das Maß aller Dinge.
Altdorfer, Schongauer, Grünewald, Hans Baldung Grien und sogar Dürer: gegen die Vorliebe der Engländer für einen Raffael oder van Eyck hatten die Maler und Kupferstecher aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation einen schweren Stand.
“In England empfand man deutsche Renaissancekunst als zu eigenwillig und launenhaft, als zu expressiv und sogar hässlich. Das hielt sich lang und änderte sich erst im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund neuer Wertvorstellungen und Sehgewohnheiten.”
Zwei Fragen stellt die National Gallery in ihrer Pressemitteilung zur Ausstellung; sie erinnern an Referate aus dem Oberseminar: “Was macht ein Kunstwerk schön?” und “Wie kommt es, dass der Schönheitsbegriff sich oft radikal wandelt, je nach zeithistorischem Kontext?”
"Der Besucher wird allein gelassen"
Die Ausstellung selbst lässt die Fragen offen. Es geht um Rezeptionsästhetik – kein leichtes Thema! –, aber der Besucher wird allein gelassen, wie im Examen: mit 104 Exponaten und nur minimalster Orientierung.
Ausführlichst erläutert und dokumentiert wird nur ein Kapitel: das schwierige Erbe der National Gallery, konkret die An- und Abschaffungspolitik des Hauses.
1854 erstand der britische Finanz- und spätere vierfache Premierminister William Gladstone für die Gallery die Kunstsammlung des Deutschen Carl Wilhelm August Krüger mit 64 westfälischen Arbeiten aus dem 15. und 16. Jahrhundert.
Doch schon drei Jahre später betrieben die Treuhänder des Museums den Verkauf von 37 Bildern aus der “Krüger Collection”. Die Stücke passten nicht – Zitat – “zur derzeitigen Beschaffenheit der Galerie".
Die Veräußerung der Werke bedurfte eines Parlamentsbeschlusses, ein bis heute einmaliger Vorgang in der Geschichte der National Gallery. Trotz Holbein und Cranach: so ganz erholt hat sie sich von diesem Renaissancedefizit noch immer nicht.
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