Endzeitmusik

12.02.2012
Gustav Mahler blieb die Erfahrung erspart, Franz Schreker musste sie noch durchmachen. Beide Komponisten waren jüdischer Herkunft, ihre Werke waren ab 1933 verfemt, ihre Welt brach zusammen. David Zinman bringt beide an einem Abend zusammen – Abgesänge auf eine "Welt von Gestern".
Es ist eine dünne Wand, die die um 1860 geborenen Komponisten von ihren rund 15 Jahre jüngeren Kollegen trennt. Gustav Mahler (Jahrgang 1860) stand am Ende der romantischen Musik – seine Erben Arnold Schönberg (Jahrgang 1874) und Franz Schreker (Jahrgang 1878) schöpften noch ganz aus der Romantik, stießen aber zu neuen Welten vor: Schönberg verließ die Tonalität, Schreker arbeitete lustvoll an deren Grenze und ließ sich von der Psychoanalyse zu seinen Opern inspirieren. Um 1910 bündelten diese Komponisten die letzten orchestralen Kräfte in riesigen Apparaten, wie man sie etwa in Mahlers 8. Sinfonie oder in Schönbergs "Gurre-Liedern" findet (deren Uraufführung Schreker dirigierte). Dann war – so scheint es – die Luft raus: Mahlers Musik wurde immer brüchiger, Schönberg wandte sich kleineren Besetzungen zu, Schreker folgte ihm darin.

Diese Entwicklung durchzieht das heutige Programm des WDR Sinfonieorchester Köln. Franz Schrekers klein besetzte, durchkomponierte Kammersinfonie sprach das aus, was sich in Mahlers "Lied von der Erde" ankündigte: die Zeit der überbordenden Sinfonik war vorbei. Mahler fuhr zwar einen großen Apparat auf, setzte ihn aber ungewohnt sparsam ein, bis der Orchesterklang unter den am Ende mehr gehauchten als gesungenen "ewig"-Worten zu ersterben schien. In einer schweren persönlichen Krise legte Mahler hier ein Bekenntnis in Vertonungen altchinesischer Lyrik ab und ließ es zum Bekenntnis eines ganzen Zeitalters werden. Mahler hielt das "Lied von der Erde" für sein "persönlichstes" Werk – sein Freund Bruno Walter sah in ihm das "mahlerischste".

Zwei Solisten singen "Das Lied von der Erde": Tenor – und Alt oder Bariton. Lange Zeit gab man der Alt-Fassung den Vorzug, doch haben sich Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau und Thomas Hampson immer für die andere Version stark gemacht, die inzwischen regelmäßig gespielt wird – so auch heute. So oder so dürfte die Besetzung dieses Konzerts ein Traum jedes Mahlerianers sein: Am Pult steht der für seine detailgenaue Mahler-Lektüre gerühmte Dirigent David Zinman, der mit dem Züricher Tonhalle-Orchester einen der spannendsten Mahler-Zyklen der vergangenen Jahre eingespielt hat. Baritonsolist ist der herausragende Gestalter Christian Gerhaher, dessen Mahler-Interpretationen den Vergleich mit Fischer-Dieskau und Hampson nicht im mindesten scheuen müssen.

Kölner Philharmonie
Aufzeichnung vom 3.2.12

Franz Schreker
Kammersinfonie für 23 Soloinstrumente

ca. 20:35 Uhr Konzertpause mit Nachrichten
Olaf Wilhelmer im Gespräch mit David Zinman

Gustav Mahler
"Das Lied von der Erde"
Fassung für Tenor, Bariton und Orchester


Christian Elsner, Tenor
Christian Gerhaher, Bariton
WDR Sinfonieorchester Köln
Leitung: David Zinman