Endstation Lesbos

Von Hildegard Becker · 04.10.2008
Das gute Sommerwetter über dem Mittelmeer lässt die Zahl der illegalen Bootsflüchtlinge nach Europa jedes Jahr steigen. Eine Kehrtwende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. In Griechenland waren es nach Angaben der Regierung im vergangenen Jahr 112.000. Und immer mehr Eltern schicken ihre Kinder vor.
"Wir sind über den Iran gekommen, mein kleiner Bruder und ich. Tag und Nacht sind wir gelaufen. Über die Berge. Wir kamen in die Türkei, und mit einem Schlauchboot ging’s dann nach Lesbos. Viele Kinder konnten nicht schwimmen. Aber wir hatten Glück und kamen alle heil an."

So viel Glück wie der Afghane Jafara Haydary haben nicht alle. Einer von vier Flüchtlingen ertrinkt, so hört man. Allein auf der Insel Lesbos, in Sichtweite des türkischen Festlands, kamen voriges Jahr 6000 an. 2008 waren es bis Ende August schon 7000. Wracks von Schiffen an den Stränden weisen auf das Drama hin – auf diese "andere Welt", die sich nicht länger verbergen lässt. "Ignoriert die Realität nicht!" warnen Hilfsorganisationen.

Zu dieser Realität gehören zunehmend Kinder. Sie sind besonders gefährdet: Ihnen drohen Ausbeutung, Misshandlung, Vergewaltigung, Prostitution. Warum die gefährliche Reise? Überall sind Krisen und oft bittere Armut. Man hat nichts zu verlieren.

Manche Jugendliche kommen in Gruppen. Die in Athen lebende Ethnologin Jutta Bacas machte während ihrer Untersuchung über Bootsflüchtlinge eine Beobachtung. Ein Patrouillenboot der Küstenwache brachte in Lesbos 12 Jugendliche an Land – 17- und 18-Jährige. Einer allerdings wirkte viel älter.

Bacas: "Es war ein größerer, stärkerer, ausgewachsener Mann, der als einziger eine lange Stoffhose trug, Lederschuhe und ein weißes Hemd. Und ich fand es auffällig: eine ganze Gruppe von Jugendlichen, (der) die von einem Älteren begleitet wurden."

Die Vermutung: Ein Erwachsener organisiert für die Jugendlichen die Flucht und knüpft weitere Kontakte. Ihre berechtigte Frage wird mit Fragen beantwortet. das ist nicht gut, sondern verdoppelt nur Ihre Frage? Wenn Sie keine substantielle Antwort haben, raus damit.

Die Jugendlichen kommen ins Haftlager Pagani. Wie alle, die aufgegriffen werden – egal wie alt. Eingesperrt hinter Gittern. 10- bis 18-Jährige ohne Eltern, zusammen mit Erwachsenen. Das widerspricht der UNO-Kinderrechtskonvention. Das Lager ist zeitweise total überfüllt. Matratzen und Decken reichen bei weitem nicht. Für ca. 100 Personen gibt es zwei Toiletten und eine Dusche.

Sie bleiben dort etwa 10 Tage, manchmal auch 30. Die meisten bekommen dann ein Papier mit der Anordnung, Griechenland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Jugendliche werden nach Agiassos gebracht. Dort ist ein Aufnahmezentren für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Es ist das neueste und größte von sieben in ganz Griechenland, mit 104 Betten. Es liegt isoliert in den Bergen, 7 Kilometer vom Ort entfernt. Die als Sozialarbeiterin tätige Selinia Strux erläutert:

Selinia Strux: "Sie werden also mit dieser Ausweisungsverfügung entlassen und hierher gebracht. Und von da an sind sie frei. Viele Kinder verlassen das Zentrum sehr schnell."

Seit Eröffnung des Zentrums vor drei Monaten sind etwa 400 hier durchgegangen. 25 bis 40 wohnen länger dort. Die meisten aber suchen Arbeit in Athen oder anderswo. Sie brauchen Geld, denn sie wollen in andere europäische Länder. Asyl beantragen nur wenige. Sie wissen: ihre Chance ist fast gleich Null.

Etwa 70 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen sind männlich. Die meisten kommen aus Afghanistan. Für die, die bleiben, bietet das Zentrum in Agiassos Sport, Sprachkurse und Computerkurse an.

Es gibt Probleme und Widersprüche. Etwa dies: Die Kinder sind gewöhnt, schon mit acht oder neun Jahren zu arbeiten. Das wollen sie auch in Griechenland. Da das erst ab 18 erlaubt ist, geben viele Jüngere an, sie seien 18. Denn manche Eltern erwarten, dass die Kinder ihnen Geld schicken. Eine heikle Sache, meint ein Mitarbeiter:

Agiassos: "Das ist zweischneidig, denn sie sind minderjährig. Arbeiten dürfen sie nicht, aber die Regierung zahlt nichts für ihren Unterhalt. Das tut sie nicht einmal für griechische Minderjährige, geschweige denn für Flüchtlinge."

Laut Gesetz muss ein Vormund ernannt werden. Bisher geschah das nicht. Für die in Agiassos ankommenden Minderjährigen hat der zuständige Staatsanwalt jetzt einen Vormund ernannt – zum ersten Mal überhaupt. Nun müssen aber die Jugendlichen, für die er ja sorgen soll, Griechenland innerhalb eines Monats verlassen – was übrigens auch der UNO-Kinderrechtskonvention widerspricht.

Warum kommen die Kinder überhaupt alleine nach Europa? Selinia Strux erläutert es am Beispiel Afghanistan.

Selinia Strux: "Viele Kinder haben Afghanistan schon vor Jahren verlassen. Sie sind als Flüchtlinge nach Pakistan oder in den Iran gegangen. Dort hatten sie Probleme. Oder vielmehr ihre Familien. Denn sie selbst waren damals noch klein. Sie sollten ausgewiesen werden. Sie lebten dort "illegal", und die Kinder konnten nicht zur Schule gehen. Viele der Kinder hier haben nur einen Wunsch: zur Schule gehen zu dürfen."

Was soll aus ihnen werden? Diese Kinder sind Teil der Zukunft Europas. Die Europäische Union braucht ein Schutzsystem für Minderjährige, das von allen Mitgliedsstaaten in die Praxis umgesetzt wird. Griechenland ist mit dem Flüchtlingsansturm überfordert. Die Probleme gehen alle an. Europa darf das Land damit nicht allein lassen.