Emsige Depeschen

Von Rainer Burchardt · 04.12.2010
Man könnte wohl lachen, wäre die ganze Sache nicht so brisant. Die Liebesgrüße aus Berlin nach nebenan vom Büroleiter ausgerechnet des FDP-Chefs und Außenministers Guido Westerwelle sind leider mehr als nur zu vernachlässigende Petitessen. Der emsige Depeschenschreiber ist eine traurige Figur im politischen "Klatsch-und Tratsch-Theater" einer Hauptstadt, wie jetzt von WikiLeaks neben vielem anderen schonungslos enthüllt.
Verglichen mit den globalen Auswirkungen der unfassbar umfangreichen Internet-Enthüllungen ist die Berliner Blamage zwar peinlich und im Zweifel in Grenzen schädlich. Doch das jetzige globale Datendesaster hat viel gravierendere Ausmaße, die vor allem das Mit- und Gegeneinander ganzer Staaten, ja regionaler Organisationen wie Europa negativ beeinflussen können.

Mit anderen Worten: Mit dem digitalen Zeitalter ist die Ära der Geheimdiplomatie mit einem Aplomb beendet worden. Überspitzt ließe sich formulieren: Metternich war vorgestern, Al Kaida gestern. Zu den altmodischen, nicht minder bedrohlichen Gefährdungen kommen jetzt eben die digitalen, kaum kontrollierbaren und schon gar nicht zu verhindernden Enthüllungen hinzu. Naive nennen dies eine demokratische Transparenz.

In Wahrheit steckt dahinter nicht mehr und nicht weniger als Verrat. Verrat an den ethisch-moralischen Grundsätzen politischen Handelns, Verrat an diplomatischen Prozessen, die jede Demokratie braucht wie die Luft zum atmen. Und schließlich auch Verrat am Berufsstand des Journalismus, dessen wichtigste Aufgabe es ist, gewissermaßen als Gatekeeper, also Torwächter der Nachrichtenportale Meldungen und deren Machart zu werten und zu gewichten. Mag ja sein, dass die selbstangeeignete Funktion der Presse als "Vierte Gewalt" überzogen ist, doch im Regel- und Räderwerk der Demokratie ist die verantwortungsvolle Publizistik ein unverzichtbarer Bestandteil.

Die aktuellen so genannten Enthüllungen zeigen es: Hier hat sich im Cyberspace faktisch eine informelle und im Zweifel desinformierende Weltmacht etabliert. Eine Weltmacht, die – vorläufig zumindest - unkontrollierbar und jenseits allen demokratischen Comments ihr Unwesen treiben kann. Und die Folgen sind bislang nicht absehbar.

Die jahrhundertelang von den Staaten im Umgang miteinander eingeübte diplomatische Vertraulichkeit kann nicht mehr gewahrt bleiben. Ja, Fälschern und Kriegshetzern sind jetzt auch in den Webportalen sozusagen Tür und Tor geöffnet. Die Kriegserklärungen spielen sich jetzt im Reich der Bits und Bytes ab. Und erst deren Fortsetzung mit anderen Mitteln werden mögliche Waffengänge sein.

Und noch eines: Was da im Gewande von angeblich mehr Offenheit, mehr Freiheit, ja Demokratie im eigentlichen Sinne herkommt, ist eine politisch "heiße Ware", die faktisch als Hehlergut im Netz feilgeboten wird. Und das ganze vordergründig zum Nulltarif. Doch die Zeche für diesen widerlichen Datenhandel zahlen wir schon jetzt.

Politisch ausgedrückt ist das ganze nämlich nichts anderes als eine "misstrauensbildende Maßnahme". Nachdem die Digitalisierung gewissermaßen den gesamten Globus mit einer einheitlichen Benutzeroberfläche, eben dem globalen Netzwerk, überzogen hat, sind nationale oder regionale Datenschutzgesetze nicht mehr das Papier wert, auf dem sie niedergeschrieben sind.

Was bleibt, ist Ratlosigkeit allerorten: Die Dimension des jetzt "Enthüllten" ist faustisch: Der Geist ist aus der Flasche und nicht mehr einzufangen. Die jetzt ertönenden Rufe - vor allem aus der Politik - nach mehr Kontrolle und schärferen Gesetzen ist eben so wohlfeil wie geradezu anrührend. Diese Forderungen entstammen - mit Verlaub -dem analogen Denken und einem spätestens jetzt veralteten Weltbild.

WikiLeaks ist kein Leck, wie der Firmenname suggerieren soll, sondern ein medialer und damit auch politischer Tsunami. Vielleicht ist es ja die unübersehbare Fülle an Informationen, die eines Tages unser aller Neugierde nach dem Motto von Neil Postmann erlahmen lässt, der einst warnte, wir würden uns zu Tode informieren. Zugegeben: Vorläufig kann das nur eine Hoffnung sein.
Mehr zum Thema