Emmanuelle Bayamack-Tam: "Arkadien"

Paradies mit Abgründen

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Buchcover zu Emmanuelle Bayamack-Tams "Arkadien"
In "Arkadien" erzählt Emmanuelle Bayamack-Tam von einem jungen Mädchen, das die Ideale der libertär lebenden Kommune, in der sie heranwächst, als Lippenbekenntnis entlarvt. © Secession Verlag
Von Dirk Fuhrig · 03.08.2020
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Ein junges Mädchen wächst nicht zur Frau heran, sondern entdeckt, dass sie wohl eher ein Mann wird. In der südfranzösischen Aussteigerkommune "Arkadien", die Emmanuelle Bayamack-Tam beschreibt, ist das so selbstverständlich wie die freie Liebe.
Arkadien - das antike Idyll ist hier eine ökologisch-dynamische Kommune irgendwo im Südosten Frankreichs, an der Grenze zu Italien. Ein Aussteiger-Dorf, in dem der schwule Guru Arkady eine Schar von Jüngern um sich versammelt hat. Es gibt kaum Technik oder sonstige moderne Annehmlichkeiten, stattdessen sind "elektrosensible" Menschen willkommen, und vegetarisches Essen ist ohne Alternative.
In diesem "Liberty House" genießen die Kommunarden ihre unbeschwerte Freiheit und Nacktheit. Ob alt oder jung, dick oder dünn, schön oder hässlich - alle leben friedlich gemeinsam vor sich hin, haben Geschlechtsverkehr nach Lust und Laune. Sexuelle Präferenzen sind unwichtig.
Und so ist Farah nur ein wenig erstaunt, aber nicht allzu verwirrt, als sie merkt, dass aus ihr keine richtige Frau wird. Die weiblichen Geschlechtsorgane sind unterentwickelt, dagegen bekommt sie breite Schultern und kräftige Muskeln - was ihr den Spitznamen Sylvester Stallone einbringt.

Freie Liebe im modernen Paradies

Arkady, der sich nach Guru-Manier die Sexualpartner und -partnerinnen nach Belieben aussucht, ist ein gütiger Anführer. Er lebt mit seinem dicken Freund Victor zusammen. Aber da Treue und Eifersucht in dieser paradiesischen Gemeinde nichts zu suchen haben, hat er Affären in alle Richtungen, auch mit der minderjährigen Farah.
Emmanuelle Bayamack-Tam schreibt aus der Perspektive der heranwachsenden Farah. Sie trifft den lässigen Ton einer Pubertierenden perfekt und erzählt in einem packenden Rhythmus. Die Sprache perlt dahin, voll sanften Humors und Ironie, vor allem bei der Beschreibung der skurrilen Erwachsenen. Keine Formulierung wirkt gesucht oder künstlich. Das gilt auch für die hervorragende Übersetzung durch Patricia Klobusiczky.
Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, sexuelle Bedürfnisse und Praktiken zu beschreiben. Andersartigkeit - in jeder Hinsicht - wird in größter Selbstverständlichkeit dargestellt.

Altmodisch wie ein Hippie-Camp

"Arkadien" ist eines dieser Bücher, die man kaum aus der Hand legen möchte, trotz der mehr als 400 Seiten So sehr zieht die Autorin den Leser hinein in diese hedonistische Welt, in der jeder sein kann, wie er ist, wohlgestalt oder vom Leben gezeichnet, sexuell interessiert an wem auch immer, oder ganz und gar nicht. Das Paradies, das Emmanuelle Bayamack-Tam hier beschreibt, wirkt sympathisch altmodisch wie ein Hippie-Camp aus den späten 60ern.
Ein Idyll. Zu schön um wahr zu sein. Das zeigt sich, als Farah und ihre Freunde einen afrikanischen Migranten, der über die Berge aus Italien gekommen ist, heimlich im Liberty House übernachten lassen. Als das rauskommt, sind die ach so liberalen Aussteiger nicht mehr ganz so offen.
Natürlich endet das alles übel. Ein solches von allen Regeln und Tabus befreites Paradies passt nicht in unsere hypermoralisierte Gegenwart. Die böse Außenwelt erträgt die Utopie nicht, finanzielle Unregelmäßigkeiten, Klagen enterbter Angehöriger einer wohlhabenden Kommunardin und Missbrauchsvorwürfe gegenüber dem Ober-Hippie bringen das moderne Arkadien zum Einsturz.

Plädoyer für Andersartigkeit

Emmanuelle Bayamack-Tam, die Lehrerin in einem so genannten "Problembezirk" in der östlichen Pariser Banlieue ist, zählt zu den interessantesten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Sie ist sozial sehr engagiert und setzt sich für die Interessen migrantischer Franzosen ein. Die 54-Jährige hat ein knappes Dutzend Romane veröffentlicht, einige davon sind auch auf Deutsch erhältlich. Darunter die bitterböse Groteske "Ich komme" über ein dickes schwarzes Kind in Marseille.
"Arkadien" ist wieder eine Satire, aber vor allem ein Roman über eine Jugendliche, die ihren Körper und ihre Sexualität entdeckt. Die Utopie einer Welt, in der weder Klasse noch Rasse noch sexuelle Ausrichtung noch sonstige Andersartigkeit eine Rolle spielt. Inhaltlich und sprachlich von ungeheurer Kraft - und die Lektüre ein großes Vergnügen.

Emmanuelle Bayamack-Tam: Arkadien
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
Secession-Verlag, Berlin 2020, 450 Seiten, 28 Euro

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