Emmanuel Ede - Zeitzeuge des Biafra-Krieges

"Man wünschte jedem Happy Survival"

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Emmanuel Ede (helles Hemd, dunkles Sakko) blickt zurückhaltend lächelnd in die Kamera.
Emmanuel Ede war 16, als der Biafra-Krieg zu Ende ging. Er ging danach nach Deutschland. © Caritas International / Philipp Spalek
Von Carolin Pirich · 15.01.2020
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Vor 50 Jahren ging der Biafra-Krieg zu Ende. Nigeria blockierte den ölreichen Teil des Landes, es kam zu einer humanitären Katastrophe. Zwischen 500.000 und drei Millionen Menschen starben. Emmanuel Ede hat den Krieg erlebt – und erinnert sich.
Emmanuel Ede sitzt am Schreibtisch seines Bruders im Berliner Wedding. In den Computerlautsprechern singt Celestine Ukwu. Edes Lächeln zieht sich über das ganze Gesicht:
"Ich bin 50er-Generation, und solche Musik hörte ich gern, mit meinen Geschwistern. Als ich die Musik damals hörte, war ich zehn Jahre alt. Wir sind damals barfuß gelaufen, auf der Straße hörte man solche Musik und dann fing man an zu tanzen. Da hat man keine Sorgen. Das war sorgenfreie Kindheit. Das war ganz toll."

Nach der Unabhängigkeit kam der Krieg

Damals, das war Anfang der 60er-Jahre in der Nähe von Enugu, der größten Stadt im südöstlichen Nigeria, der Teil, der christlich war. Emmanuel Edes Mutter arbeitet damals als Näherin, sein Vater handelt mit Fahrrädern. Der Vater kann nicht lesen und schreiben, aber für seine Kinder wünscht er sich eine gute Schulbildung. Eine von Emmanuel Edes Schwestern arbeitet zu der Zeit schon in Europa, und Emmanuel Ede bewirbt sich um die Aufnahme an einer weiterführenden Schule in Nigeria. Er zieht zu seiner ältesten Schwester in eine andere Stadt, um dort für die Aufnahmeprüfungen zu lernen. Sie ist Sozialarbeiterin:
"Im Mai 1967 ist Biafra unabhängig geworden, und natürlich haben wir uns alle gefreut, eine eigene Republik zu haben. Als Kind hat man gejubelt. Dann haben wir gemerkt, dass der Krieg ausgebrochen war."
Von der Grenze dringt das nigerianische Militär immer weiter vor. Die Stadt Enugu wird eingenommen. Emmanuel Edes Eltern kommen ums Leben. Er ist das fünfte Kind von sieben, von jetzt an sorgen die älteren Geschwister für die jüngeren. Als die Soldaten weiter in Biafra vorrücken, fliehen Emmanuel Ede und seine Schwester.
"Die Flüchtlinge kamen, da haben wir gemerkt, da ist Krieg ausgebrochen. Meine Schwester hatte damals ein riesiges Zweizimmerappartement, hatte viele Bücher, aber was wir mitgenommen haben: eine Nähmaschine und einen Koffer. Ich hab die Nähmaschine auf dem Kopf getragen. Und meine Schwester ihre Zeugnisse und ein Fotoalbum. Und sonst nichts."
Sie fliehen zu Fuß, Emmanuel Ede und seine Schwester. Sie gehen mit dem Flüchtlingsstrom Richtung Süden, Lastwagen voller Menschen fahren an ihnen vorbei. Ein Dorf nimmt Flüchtlinge auf. Ede und seine Schwester ziehen in die Grundschule, die für die Flüchtlinge umfunktioniert worden ist.

Vor Verzweiflung aßen die Menschen sogar Eidechsen

Er ist dreizehn, als die Blockade beginnt, als keine Nahrungsmittel mehr in die Region gelangen. Es fehlt an allem, an Salz, an Zucker, an Medizin.
"Deshalb gab es so viel Hunger, dass viele Kinder gestorben sind. Wir haben alles gegessen. Hibiskusblumen! Man hat Eidechsen gegessen, die an den Wänden krabbelten, Krabbeltiere hat man geschlachtet. Man brauchte ja Proteine."
In der Zeit sieht Ede die bis auf die Knochen abgemagerten Kinder. Der Hunger bläht ihren Bauch, sie können sich kaum auf den Beinen halten. Es sind die Kinder der Ärmsten in Biafra, so erinnert sich Ede, viele von ihnen Waisenkinder. Fotos von diesen "Biafra-Kindern" gingen damals um die Welt und haben das Bild von Afrika geprägt. Damals gründet sich die Organisation Ärzte ohne Grenzen.
Als die Caritas und das Rote Kreuz beginnen, in den Nächten mit Flugzeugen Hilfspakete einzufliegen und abzuwerfen und Lastwagen sie ins Camp fahren, hilft Ede dabei, sie abzuladen. Für die Arbeit wird er mit Nahrungsmitteln bezahlt. Mit Milchpulver, Stockfisch, Käse. "Vor allem viel Käse", erinnert sich Ede. "Deshalb kann ich heute keinen Käse mehr essen. Als ich nach Deutschland kam, habe ich gesagt, nee, Käse, das habe ich satt."

Die Kinder retteten sich nach Deutschland

Edes Schwester, die Sozialarbeiterin, kümmert sich darum, dass viele Waisenkinder an die Elfenbeinküste ausgeflogen werden. Emmanuel Ede kehrt nach dem Krieg mit einigen seiner Geschwister zunächst ins zerstörte Elternhaus zurück. "Man wünschte jedem happy survival, happy survival. Man war ja froh, dass man das überlebt hat", erinnert er sich.
Ede besucht wieder die Schule. Eine andere Schwester, die bereits in Deutschland lebt, besorgt Visa für ihn und zwei jüngere Geschwister und bezahlt die Flugtickets. 1971, ein Jahr nach Ende des Krieges, landen sie in Deutschland. Sie leben zusammen in Göttingen.
"Ich war damals 16, mein Bruder 14, meine Schwester 12. Wir hatten kein Bedürfnis, über den Krieg zu sprechen. Wir waren froh, dass wir gut aufgenommen wurden."
Später studiert Ede Architektur, er promoviert. Heute lebt er mit seiner Frau in Bonn und arbeitet als Architekt, Coach und Trainer. Mit seinem Bruder spricht er manchmal über die Zeit, als ihre Eltern noch gelebt haben und sie auf der Straße barfuß zur Musik von Celestine Ukwu getanzt haben.
Aber über den Biafra-Krieg haben sie in diesen Tagen zum ersten Mal gesprochen.
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