Élysée 2.0

"Vor allem Deutschland steht auf der Bremse"

Ulrich Fuchs im Gespräch mit Ute Welty · 22.01.2019
Mit dem Aachener Vertrag vereinbaren Deutschland und Frankreich eine Zusammenarbeit weit über den EU-Rahmen hinaus. Doch Élysée 2.0 lenke auch davon ab, wie sehr beide Länder derzeit mit eigenen Problemen beschäftigt seien, meint Ulrich Fuchs.
Ein Zeichen des Aufbruchs in politisch schwierigen Zeiten? Genau 56 Jahre, nachdem Bundeskanzler Konrad Adenauer und Frankreichs Präsident Charles de Gaulle den Élysee-Vertrag unterzeichneten, werden heute Angela Merkel und Emmanuel Macron mit dem Aachener Vertrag die deutsch-französische Freundschaft erneuern und vertiefen.
Gut, dass die beiden ein Zeichen setzen, meint der Germanist und Theaterwissenschaftler Ulrich Fuchs, der sowohl die deutsche als auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt und in Marburg und Marseille lebt. In Marseille wird das Ereignis offenbar durchaus wahrgenommen: "Das ist ein wichtiger Ort der deutsch-französischen Beziehung, vor allem ökonomisch", sagt Fuchs. "Wir haben mit Hamburg eine der ältesten Städtepartnerschaften, die schon fünf Jahre vor dem Élysée-Vertrag von 1963 begründet worden ist, und von daher ist Deutschland in Marseille schon präsent. Sicherlich nicht bei allen Menschen, aber doch bei einem erheblichen Teil."

Bislang enttäuschte die deutsch-französische Politik

Auf politischer Ebene beurteilt Fuchs die gegenwärtige deutsch-französische Situation dagegen deutlich skeptischer. Zwar hält er das Verhältnis von Merkel und Macron für "ziemlich tragfähig". Aber vieles, was während der letzten Monate in den deutsch-französischen Beziehungen passiert sei, hat ihn enttäuscht:
"Vor allem, wenn ich daran denke, wie vollmundig die Große Koalition einen neuen Schwung in die Europapolitik bringen wollte und auch ins deutsch-französische Verhältnis, angefangen von Martin Schulz, der das auch glaubwürdig vertreten hat, aber dann ja doch keine Rolle gespielt hat bei den Koalitionsverhandlungen. Offenbar ist seine Position also teilweise übernommen worden, aber die Realität hat sich davon dann doch weit entfernt."

"Macron steht mit dem Rücken zur Wand"

Vor allem Deutschland steht Fuchs zufolge auf der Bremse, was eine Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen angeht. Macron hingegen habe diesbezüglich am Anfang Schwung gehabt.
Demonstranten in Paris stehen in einer Wolke von Tränengas, das von Polizisten während eines "Gelbwesten"-Protests eingesetzt wurde.
Durch die Gelbwesten-Proteste ist Frankreichs Präsident Macron massiv unter Druck geraten.© Kamil Zihnioglu/AP/dpa
Aber: "Einerseits mangels des Entgegenkommens der deutschen Seite und andererseits aufgrund der massiven Fehler, die er auch in seiner Politik der letzten Monate gemacht hat, ist das Thema fast ein bisschen sekundär geworden", bedauert Fuchs. "Man hat den Eindruck jetzt mit der Unterzeichnung heute, dass dies fast ein bisschen von den Alltagsproblemen ablenkt, die die beiden Länder im Moment doch sehr viel stärker haben: einerseits die ökonomischen Sorgen in Deutschland, die stärker werden, auch mit dem drohenden Brexit, und andererseits kriegt Macron die Gelbwesten-Bewegung kaum in den Griff und steht da, ja, man muss fast sagen: mit dem Rücken an der Wand."
(uko)

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Theaterdramaturg, Uniprofessor, Kulturhauptstadtmanager Ulrich Fuchs ist ein vielgefragter Mann, und er selber fragt auch viel, vor allem und immer wieder nach dem deutsch-französischen Verhältnis. Ulrich Fuchs hat sowohl die französische wie die deutsche Staatsangehörigkeit, er lebt vor allem in Marseille und dann auch in Marburg, und wenn heute in Aachen die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident den Élysée-Vertrag am Jahrestag der originären Unterzeichnung erneuern, dann interessiert uns seine Meinung. Guten Morgen, Herr Fuchs!
Ulrich Fuchs: Guten Morgen nach Berlin!
Welty: Außer Ihnen, interessiert sich da jemand in Marseille für diese erneute Vertragsunterzeichnung?
Fuchs: Ach ja, schon. Es gibt hier doch eine ganze Reihe von Menschen, die am deutsch-französischen Verhältnis interessiert sind, auch in Marseille. Das ist ein wichtiger Ort der deutsch-französischen Beziehung, vor allem ökonomisch. Wir haben mit Hamburg eine der ältesten Städtepartnerschaften, die schon fünf Jahre vor dem Élysée-Vertrag von 1963 begründet worden ist. Und von daher ist Deutschland in Marseille schon präsent – sicherlich nicht bei allen Menschen, aber doch bei einem erheblichen Teil.

Keine Hochburg der extremen Rechten mehr

Welty: Marseille ist wie kaum eine andere Stadt in Frankreich von Einwanderung geprägt, gilt auch als eine der Hochburgen der Rechten. Inwieweit ist Marseille so etwas wie Europa unterm Brennglas?
Fuchs: Da muss ich Ihnen widersprechen ein bisschen. Also Marseille ist keine Hochburg der Rechten. Marseille ist, was schlimm genug ist, sozusagen nationales Mittelfeld, was die Präsenz des Front National oder heute Rassemblement National anbetrifft, aber eine Hochburg, das war vor etlichen Jahren. Das Klischee hält sich sehr lange, stimmt aber nicht. Hoher Migrationsanteil, das ist richtig, wobei der Migrationsanteil in Marseille eigentlich auch nicht einer ist, der jetzt, beispielsweise wie es in Deutschland der Fall ist, durch die Flüchtlingskrise oder durch die Flüchtlingsbewegung ausgelöst ist, sondern das hat eine ganz alte und lange Tradition. Marseille war immer ein Ort der Migration, seit 2600 Jahren eigentlich, und wenn diese Stadt etwas auszeichnet, dann ist es der Umstand, dass sie mit Migration extrem gut umgehen können. Also diese Verbindung, die Sie gerade gemacht haben, das ist leider eben eines der Klischees, die in Deutschland über Marseille existieren. Rechte und Migrationsanteil, das passt überhaupt nicht zusammen in Marseille.
Marseille - Musikalischer Hotspot im Midi
Marseille - Musikalischer Hotspot im Midi© Barbara Eckle
Welty: Aber woran liegt das denn, dass sich diese Klischees so hartnäckig halten?
Fuchs: Weil die Mentalität der Menschen ändert sich viel langsamer als die Realität. Das ist etwas, was, glaube ich, sehr allgemein gilt, und da arbeiten wir auch als Marseiller sozusagen dagegen, und das tue ich auch oft schriftlich und mündlich, dass ich dem widerspreche. Ich will damit nicht die Probleme kleinreden. Marseille ist eine Stadt mit hohen Problemen, mit vielen Problemen. Die sind aber vor allem soziale Probleme und nicht Probleme, die bedingt sind durch die Migration von Menschen, weil das ist etwas, was Marseille mit seiner Gründung eigentlich in der DNA hat. Es gibt sehr, sehr viele, 30, 40 Prozent, die zwar französische Staatsbürger sind, aber einen migrantischen Hintergrund haben, aber da legt auch der konservativen Partei – nicht der extrem Rechten, der konservativen Partei – angehörige Bürgermeister von Marseille einen hohen Wert drauf, dass er sagt, ihr gehört zu Marseille, ihr seid Marseiller, und das ist wirklich etwas, wo man Marseille fast als ein europäisches Beispiel sehen könnte, wie gut die Integration von einwandernden Menschen geklappt hat, Italienern, Spaniern, Marokkanern, Algeriern und so weiter.

Respekt und Anerkennung für Merkel in Frankreich

Welty: Sie kennen Marseille, Sie kennen auch Marburg. Jetzt sind diese beiden Städte schwer vergleichbar, aber welche Eindrücke nehmen Sie aus Marseille wie aus Marburg mit, wenn Sie das deutsch-französische Verhältnis beschreiben möchten?
Fuchs: Also wenn ich nach Marburg fahre, fahre ich ja meist über Frankfurt, und Frankfurt ist vielleicht vergleichbarer auch mit Marseille von der Größe her. Also es fällt mir schon auf beispielsweise, dass seit 2015 der Anteil der Menschen, die ich in Frankfurt am Flughafen oder am Hauptbahnhof oder auch in der Regionalbahn entdecke und sehe, dass der Anteil der Flüchtlinge, der Migranten im deutschen Alltag und so weiter sehr viel deutlicher geworden ist, auch etwas verloren, finde ich, häufig, gerade wenn Sie am Hauptbahnhof dann so Gruppen von Flüchtlingen sehen, die sich schwer orientieren können. Man bekommt natürlich die Debatte auch in Deutschland mit. Das verfolgt man auch in Frankreich sehr stark. Frankreich ist ja längst nicht so aktiv gewesen in der Flüchtlingspolitik wie das Deutschland war.
Das ist auch einer der Unterschiede beispielsweise, aber es schauen viele, es haben viele Franzosen, mit denen ich Umgang habe, doch mit Respekt und mit Anerkennung auch auf diese Debatte geschaut. Also Frau Merkel hat einen ziemlich guten Ruf in Frankreich, muss man sagen. Ist vielleicht unumstrittener als Kanzlerin der Bundesrepublik als das in Deutschland der Fall ist. Die letzten Jahre waren … oder die letzten 30 Jahre waren eigentlich, was die Flüchtlingsdebatte anbetrifft in Frankreich, war das kein zentrales Thema. Wenn man nach außen geschaut hat, ja, aber Sie haben ja jetzt auch in den letzten Wochen gemerkt, die Bewegung der Gilet Jaunes, der Gelbwesten, die sehr ambivalent ist, finde ich, die also verständliche soziale Proteste widerspiegeln, aber doch auch merkwürdige Forderungen und merkwürdige Einstellungen zutage bringen, das ist in Frankreich viel präsenter als jetzt die Auseinandersetzung mit der Flüchtlingsfrage.
Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), kommt am 10.01.2018 zu den Sondierungen von Union und SPD im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin.
Martin Schulz' europapolitische Vorstellungen wurden von der Groko bisher nicht umgesetzt.© dpa-Bildfunk / Bernd von Jutrczenka
Welty: Merkel und Macron verstehen es ja beide, den anderen und die andere gut aussehen zu lassen, zuletzt verbunden im Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs. Wie tragfähig ist das?
Fuchs: Ich glaube schon, dass das Verhältnis der beiden Politiker ziemlich tragfähig ist. Die verstehen sich, glaube ich, wirklich ganz gut, und es ist auch gut, welche Zeichen sie setzen, auch mit diesem Vertrag, der da heute unterzeichnet werden wird, aber die Widersprüche zwischen den Interessen, die hinter den beiden Politikern stehen, die sind doch auch unübersehbar, und vieles ist auch enttäuschend, was jetzt in der deutsch-französischen Beziehung in den letzten Monaten passiert ist, vor allem wenn ich dran denke, wie vollmundig die große Koalition einen neuen Schwung in die Europapolitik bringen wollte und auch ins deutsch-französische Verhältnis, angefangen von Martin Schulz, der das auch glaubwürdig vertreten hat, aber dann doch keine Rolle gespielt hat bei den Koalitionsverhandlungen. Es ist also offenbar seine Position teilweise übernommen worden, aber die Realität hat sich davon dann doch weit entfernt, und das empfinde ich als Deutschfranzose auch enttäuschend, dass vor allem Deutschland auf der Bremse steht. Frau Merkel steht sozusagen auf der Bremse, was die Beziehung anbetrifft.

"Macron hat andere Probleme im Moment"

Welty: Und was macht Macron?
Fuchs: Macron hat andere Probleme im Moment, würde ich sagen. Der hat sicherlich diesen Schwung am Anfang gehabt, aber einerseits mangels sozusagen des Entgegenkommens der deutschen Seite und andererseits aufgrund der massiven Fehler, die er auch in seiner Politik der letzten Monate gemacht hat, ist das Thema fast ein bisschen sekundär geworden. Man hat den Eindruck, jetzt mit der Unterzeichnung heute, das lenkt fast ein bisschen ab von den Alltagsproblemen, die die beiden Länder im Moment doch viel stärker haben, einerseits die ökonomischen Sorgen in Deutschland, die stärker werden, auch mit dem drohenden Brexit, und andererseits kriegt Macron die Gelbwesten-Bewegung kaum in den Griff und steht da, man muss fast sagen: mit dem Rücken an der Wand.
Welty: Der Vertrag von Aachen im Blick des Deutschfranzosen und Europäers Ulrich Fuchs. Ich danke Ihnen für dieses "Studio 9"-Gespräch!
Fuchs: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema