Eltern in Notwehr?

Von Kostas Petropulos · 25.02.2010
Schon seit Jahren muss sich das deutsche Bildungssystem harte Kritik gefallen lassen: Im internationalen Vergleich nur Mittelmaß, sozial höchst ungerecht und es produziere eine große Gruppe von Bildungsverlierern. Bildungsexperten, Gewerkschaften und den Parteien im rot-grünen Spektrum gilt daher die Formel "länger gemeinsam lernen" als Königsweg zu besserer Bildung und mehr Chancengerechtigkeit.
Nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen Bundesländern wie Berlin, dem Saarland oder Nordrhein-Westfalen wächst die politische Neigung, diesen Weg einzuschlagen. Damit wird aber sofort der Widerstand meist bürgerlicher Eltern herausgefordert. – Der reine Bildungsegoismus der etablierten Klassen?

Fakt ist: Seit der ersten internationalen Bildungsvergleichsstudie PISA im Jahr 2001 jagt eine Bildungsreform die nächste. Pädagogisch stets gut begründet, werden sie aber in der Praxis von den Eltern und Schülern selten als echte Verbesserung erlebt. Im Gegenteil. Gerade die bundesweite Einführung des verkürzten Gymnasiums, des G8 oder Turbo-Gymnasiums, ist für die Betroffenen teilweise mit traumatischen Erfahrungen verbunden. Hoher Leistungsdruck, kaum noch Zeit für Vereinssport oder Musikunterricht, wachsender Stress und mehr psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Erst dieser Leidensdruck, gekoppelt mit breiten Protesten von Familien, Verbänden und Fachleuten, hat viele Regierungen veranlasst, Fehler einzuräumen und nachträgliche Korrekturen vorzunehmen.

Nicht viel besser steht es um andere laufende Reformprojekte wie die Einführung von Ganztagsschulen oder das Konzept des jahrgangsübergreifenden Lernens. Immer mit reichlich pädagogischen Vorschusslorbeeren bedacht, entpuppen sie sich im Alltag viel zu oft als bloße Sparkonzepte. Selbst renommierte Bildungsforscher, die solche Reformen begrüßen, beklagen die unzureichende finanzielle Unterfütterung dieser Neuerungen.

Auch der Fall Hamburg bestätigt das. Erst nach dem erfolgreichen Volksbegehren und langen Verhandlungen zwischen der Elterninitiative und dem schwarz-grünen Senat gab es politische Zugeständnisse: So soll die neue Gemeinschaftsschule nun doch mit kleineren Klassen und mehr Lehrern ausgestattet werden. Eine systematische Erfassung der erreichten Schulqualität soll es aber weiterhin nicht geben.

Angesichts dieser und ähnlicher Erfahrungen ist es nicht verwunderlich, wenn zwei Drittel der Deutschen die Sorge haben, dass die Kinder in Deutschland keine vernünftige Ausbildung erhalten.

Wenig vertrauensfördernd ist für die widerspenstigen Eltern in Hamburg noch ein weiterer Punkt: Die freimütig eingeräumte Bescheidenheit bei den bildungspolitischen Zielen. Fachleute und reformorientierte Landesregierungen erklären nämlich unisono, mit der neuen Gemeinschaftsschule müsse "in erster Linie den schwächsten Schülern ein Mindestmaß an Bildung vermittelt werden". – Sozialpolitisch ist das zweifellos dringend geboten.

Allerdings übergeht das den Wunsch vieler Mittelschicht-Eltern, ihren Kindern eine möglichst optimale Bildung zukommen zu lassen. Das kann man als egoistisch und elitär brandmarken – oder als illusionslosen Pragmatismus einstufen. Tatsächlich machen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jenseits der Schulen mittlerweile selbst den Mittelschicht-Eltern und ihrem Nachwuchs schwer zu schaffen. Ohne ausgezeichnete Bildungsabschlüsse haben sogar Gymnasiasten und Hochschulabsolventen gewaltige Probleme, entsprechend ihren Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt von heute Fuß zu fassen. Zudem ist in den vergangenen zehn Jahren die Mittelschicht in Deutschland von fast zwei Dritteln auf noch knapp die Hälfte der Gesellschaft geschrumpft.

Kein Wunder, wenn beim politisch tatenlos hingenommenen, ja sogar angeheizten Konkurrenzkampf um die besten Arbeitsplätze die Eltern und Kinder unter gewaltigem Erfolgsdruck stehen. Daher ist ihre Bereitschaft und Fähigkeit, auf noch Schwächere Rücksicht zu nehmen, begrenzt – jedenfalls solange Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht gemeinsam wirkungsvoll gegensteuern.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Schulmodernisierer eher als bildungspolitische Sozialromantiker und die widerständigen Eltern als Bürger, die in Notwehr handeln. Diese fühlen sich als ehrenamtliche Sozialarbeiter der Nation jedenfalls zu Recht überfordert.

Kostas Petropulos, Publizist, 1960 in Dresden geboren, studierte Deutsch und Geschichte in Tübingen. Seit 1987 als freier Journalist vor allem als Autor von wirtschafts- und familienpolitischen Themen hervorgetreten. 1995 Mitbegründer des Heidelberger Büros für Familienfragen und Soziale Sicherheit, das er seit Ende 1996 leitet.
Kostas Petropulos
Kostas Petropulos© privat
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