Elgar Fleisch u.a.: "Die digitale Pille"

Doktor Algorithmus

05:43 Minuten
Das Cover des Buches "Die digitale Pille" auf orangefarbenem Aquarell.
Fordert zum Nachdenken heraus: das Buch "Die digitale Pille". © Deutschlandradio / Campus Verlag
Von Martin Mair · 05.06.2021
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Höhere Lebenserwartung, chronische Krankheiten, explodierende Gesundheitskosten: Die Medizin steht vor großen Herausforderungen. Ein neues Buch meint, die Lösung zu präsentieren: Digitalisierung. Ist es wirklich so einfach?
Über Geld spricht man nicht: Dieses deutsche Tabu hat auch das Gesundheitswesen im Griff. Doch Therapiekosten und Arzneimittelpreise explodieren. Kann die Digitalisierung den drohenden Kollaps verhindern?
In Tagen der Pandemie trügt bisweilen der Schein. Nicht die übertragbaren Krankheiten, wie sie etwa das Coronavirus auslöst, sind die Geißel der Menschheit, sondern altbekannte chronische Leiden. Diabetes, Herzkrankheiten und vor allem Krebs sind die großen Herausforderungen der Zukunft.
Sie sind, so stellt es das Autorenteam von "Die digitale Pille – Eine Reise in die Zukunft unseres Gesundheitssystems" nüchtern fest, die Kehrseite des medizinischen Fortschritts: "Wir werden immer älter, aber wir leben auch immer länger mit Krankheiten."
Neben dem individuellen Leid ist das gesellschaftlich vor allem eine Kostenfrage: Die Gesundheitsausgaben in Deutschland liegen heute rund 21 Mal höher als noch 1970 – weit mehr als eine Milliarde Euro geben wir heute dafür aus. Täglich wohlgemerkt. Bewusst ist das gesetzlich Krankenversicherten nur selten, weil wir Arzthonorare, Krankenhausrechnungen oder Medikamentenpreise nicht zu Gesicht bekommen.

Können wir uns Medizin künftig noch leisten?

Wer das Buch liest, dürfte zunächst bisweilen geschockt sein. Schnell macht das Autorenteam klar, dass die Kostenexplosion uns vor gewaltige Probleme stellt. Doch da das erfreulich unaufgeregt und solide begründet geschieht, ist der Schock zugleich heilsam. Und die Autorenschaft - bestehend aus zwei Experten für Informationsmanagement und Betriebswirtschaft, einem Pharmamanager und einer Forscherin für digitale Medizin - legt so die Grundlage für ihre Reise in die Zukunft. Die Lösung liegt, da ist der Titel des Buchs Programm, in der Digitalisierung.
Der Hauptteil des dreigliedrigen Sachbuchs umfasst 25 "Wirkmuster". Gemeint sind Themenkomplexe, die die Digitalisierung der Medizin plastisch machen: Apps helfen Patienten bei der Selbstdiagnose von Krankheiten, Wearables wie Smartwatches und Fitnesstracker zeichnen permanent Gesundheitsdaten auf und helfen beim Vorbeugen von Krankheiten.

Künstliche Intelligenz auf dem Vormarsch

Digitale Technologien werden auch Mediziner bei ihrer Arbeit auf Schritt und Tritt begleiten, ist sich das Autorenquartett sicher: Dass ein Algorithmus künftig zuverlässiger und billiger als ein Mensch Röntgenbilder auswerten wird, ist in der Tat keine Science-Fiction. Und womöglich werden in einigen Teilen der Welt tatsächlich schon bald "unbemannte Mini-Kliniken" Kranke versorgen: Eine künstliche Intelligenz stellt die Erstdiagnose und sucht dann nach einer passenden Fachkraft, die per Video zugeschaltet wird. Das Konzept wird in China bereits erprobt.
So faszinierend viele der Beispiele aus der oft gar nicht fernen Zukunft auch sind: Das Buch krankt ein wenig daran, dass sich das Autorenteam allzu sehr von der selbstverordneten digitalen Pille euphorisieren lässt. Bisweilen fehlt die kritische Distanz zu den Verheißungen der Start-up-Szene, die auch die Medizin längst fest im Griff hat.
Dass nicht wenige der Heilsversprechen den Realitätscheck noch antreten müssen, geht auf den 288 Seiten meist unter. Und die Nebenwirkungen einer permanenten Vermessung unseres Lebens streift das Buch nur am Rande.

Chancen, Risiken und Nebenwirkungen

Man kann darin aber auch die heimliche (und wahrscheinlich versehentliche) Stärke des Buchs erkennen: Es fordert zum Widerspruch und Nachdenken heraus.
Besonders allen, die der Digitalisierung im Gesundheitswesen skeptisch gegenüberstehen, wird "Die digitale Pille" viel mitgeben. Denn damit haben die Autorin und Autoren schon recht: Die digitale Revolution wird sich auch in der Medizin nicht aufhalten lassen. Diese Chancen "optimistisch zu nutzen": Das ist das Plädoyer des Buchs.
Ob uns das tatsächlich gelingt, hängt entscheidend davon ab, ob wir uns als Gesellschaft dem Thema stellen. Das Debattenforum dafür fehlt in Deutschland noch: Politisch wird die Diskussion wenig geführt, Interessensverbände der Mediziner behindern digitale Veränderungen mehr als sie voranzutreiben.
Und wir als Patientinnen und Patienten? Wir brauchen mehr Wissen über Chancen, Risiken und Nebenwirkungen denn je. "Die digitale Pille" ist schon allein dafür lohnenswerter Lesestoff. Als Debattenbeitrag, nicht als Allheilmittel.

Elgar Fleisch, Christoph Franz, Andreas Herrmann, Annette Mönninghoff: "Die digitale Pille – Eine Reise in die Zukunft unseres Gesundheitssystems"
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2021
288 Seiten, 32 Euro

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