Elfie Siegl: Pussy Riot droht "ungeheure Härte"

Elfie Siegl im Gespräch mit Andreas Müller · 09.07.2012
Seit das Künstlerkollektiv Pussy Riot im Februar in einer Moskauer Kirche lauthals gegen Wladimir Putin protestierte, sitzen die drei jungen Frauen in Untersuchungshaft. Ihre Anwälte hatten gerade mal fünf Tage Zeit für das Studium von knapp 3000 Anklageseiten. Da werde mit Kanonen auf Spatzen geschossen, sagt Russlandkennerin Elfie Siegl.
Das Künstlerkollektiv "Pussy Riot" protestierte im Februar in einer Moskauer Kirche lauthals gegen Wladimir Putin. Seitdem sitzen die drei jungen Frauen in Untersuchungshaft. Sollte es zur Anklage wegen Rowdytums kommen, drohen ihnen bis zu sieben Jahren Haft, mutmaßt Russland-Kennerin Elfie Siegl.

Andreas Müller: "Gottesmutter vertreibe Putin", sangen drei Musikerinnen des Künstlerkollektivs Pussy Riot im Februar dieses Jahres in der Moskauer Christi-Erlöser-Kirche, um zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl gegen den damaligen Ministerpräsidenten zu protestieren. Die drei wurden verhaftet und sitzen seitdem in U-Haft. Der Vorwurf der Ermittler: Rowdytum, motiviert von religiösem Hass. Die Anklageschrift ist knapp 3000 Seiten dick und heute läuft das Ultimatum der Anwälte ab, die gelesen zu haben. Innerhalb von fünf Tagen sollte das geschehen. Inzwischen solidarisieren sich immer mehr namhafte russische Künstler, darunter auch Putin-Anhänger, und zeigen, ja, tatsächlich ihre Solidarität mit den Musikerinnen. Bei mir im Studio ist jetzt die Kollegin Elfie Siegl, schönen guten Tag!

Elfie Siegl: Guten Tag!

Müller: Frau Siegl, fünf Minuten etwa dauerte die Performance damals, monatelang nun schon die Untersuchungshaft. Vielleicht können Sie uns noch einmal kurz schildern, was Pussy Riot damals eigentlich genau gemacht haben?

Siegl: Ja, diese feministische Frauen-Punkband ist in die Christi-Erlöser-Kirche gegangen, das ist eine riesengroße Kirche in Moskau und in der Mitte ist ein Altar, der ist mit einem Gitter abgetrennt, da dürfen eigentlich dann nur die Geistlichen rein. Und sie haben sich vor den Altar gestellt, die Frauen, und haben aus einer Mischung aus Kirchengesang und Poprock haben sie eben gesungen: Muttergottes, vertreibe oder befreie uns von Putin oder jage Putin weg, je nachdem, wie man das übersetzt. Und das ging ungefähr drei, vier, fünf Minuten vielleicht, und dann wurden diese jungen Frauen, die sich maskiert hatten, also in grellen Farben, grellen Leggings aufgetreten sind, mit Strickmasken über dem Kopf, die wurden dann vom Wachschutz der Kirche und von einigen Gläubigen aus der Kirche vertrieben. Das hätte man wahrscheinlich gar nicht weiter bemerkt, wenn nicht diese Aktion ins Internet gestellt worden wäre.

Müller: Seit Monaten also sitzen die drei jetzt schon in U-Haft, vergangene Woche erschienen sie gefesselt zu einer Voranhörung im Gericht. Angeblich drohen den Frauen jahrelange Haftstrafen. Warum reagiert die Justiz mit solcher Härte?

Siegl: Ja, das ist eine Frage, die in Moskau also bis heute diskutiert wird, und die Motive liegen im Dunkeln. Also, die russisch-orthodoxe Kirche hat lange Zeit geschwiegen, dann hat sich der Patriarch Kirill, das Oberhaupt dieser Kirche, zu Wort gemeldet und hat von Gotteslästerung gesprochen und hat eigentlich klar gemacht, dass Vergebung nicht stattfinden kann, solange die jungen Frauen nicht Sühne zeigen, also ihre Schuld bekennen. Sie sind sich aber eigentlich keiner Schuld bewusst und es wird vermutet, dass unter Umständen Putin, der ja kandidiert hat damals im Februar für die Präsidentschaft und der frontal ja angegriffen worden ist, dass der also das sehr, sehr übel genommen hat und dass der eigentlich dahinter steckt, dass jetzt von staatlicher Seite, sprich, von den Justizorganen so hart durchgegriffen werden soll. Und wenn es zur Anklage kommt wegen Rowdytum, dann drohen Strafen bis zu sieben Jahren Haft.

Müller: Andere Experten sagen, für das, was sie da gemacht haben, gibt es ein Bußgeld von zwölf Euro pro Kopf normalerweise, also, das sieht das Gesetz eigentlich vor.

Siegl: Ja, eigentlich, ich sage mal, zu erwarten gewesen wäre, dass man die jungen Frauen vielleicht 15 Tage festgehalten hätte, das sind so die Strafen für Leute, die demonstrieren im Zuge der Protestbewegung, und die sich zum Beispiel mit der Polizei anlegen. Die werden dann für 15 Tage maximal, kommen die in U-Haft und werden dann freigelassen oder sie zahlen eine Strafe oder sie werden verpflichtet, wie das jetzt passiert ist, zu einem Arbeitseinsatz in bestimmter Höhe. Aber diese ungeheure Härte kann man sich eigentlich nicht erklären.

Müller: 3000 Seiten, knapp 3000 Seiten ist die analoge Anklageschrift – es gibt auch noch elektronisches Material, was die Ankläger zusammengetragen haben ... Was, um Himmels Willen, haben die denn da zusammengetragen?

Siegl: Also, das würde ich auch ganz gerne mal wissen. Es gibt ja da auch viele verschiedene Gerüchte und Theorien. Behauptet wurde mal so halb offiziell, die Frauen haben das nicht alleine gemacht, sie sind geschickt worden, es ist quasi eine Verschwörung im Gange sowohl gegen die Kirche als auch gegen den Staat, weil es eben in der Kirche stattgefunden hat. Und viele sehen diese Geschichte im großen Zusammenhang mit der russischen Protestbewegung, die im letzten Dezember entstanden ist und wo Zehntausende Menschen demonstriert haben für ehrliche Wahlen. Es ging damals um die Parlamentswahlen, dann um die Präsidentenwahlen und für ein Russland ohne Putin. Und diese harte Reaktion und diese Riesen-3000-Seiten-Anklage, wobei man gar nicht weiß, was da drin steht, das weiß niemand, zeigt natürlich auch, wie verunsichert die Kreml-Führung ist wegen dieser Protestbewegung, die in Russland entstanden ist und die natürlich weitergeht und nicht abflaut.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit der Kollegin Elfie Siegl über das Verfahren gegen Mitglieder des Kollektivs Pussy Riot. Religiöser Hass habe die Frauen motiviert, sagen die Ankläger. Was ist denn aus Reihen der russisch-orthodoxen Kirche zu diesem Fall zu hören?

Siegl: Ja, also, das ist sehr interessant: Die Kirche ist eigentlich gespalten. Also, es gibt Leute, die stützen sich auf die konservativen, nationalistischen Gläubigen, die sagen, wir müssen hart durchgreifen, wie gesagt, das ist Gotteslästerung. Ein Sprecher des Patriarchen hat gesagt, was die jungen Frauen gemacht haben, ist schlimmer als Mord, das ist schlimmer, als wenn Leute zum Beispiel den Koran verbrennen. Da wird also mit Kanonen auf Spatzen eigentlich geschossen! Andere, Theologen, Professoren der russisch-orthodoxen Kirche, sagen, diese jungen Frauen wissen gar nicht, was die Kirche ist, die haben also sich lustig gemacht über eine Karikatur von Kirche, die darf man nicht ernst nehmen, vergesst die Sache möglichst bald! Das ist aber jetzt nicht geschehen und die Kreise, die das gezogen hat, sind immer weiter geworden. Inzwischen ist Pussy Riot weltbekannt, vorher kannte man sie eigentlich maximal in der Subkultur in Moskau.

Müller: Gibt es auch Leute, die sich dann inzwischen abwenden gegen diese Kirche, die so hart ja so eine Aktion kritisiert?

Siegl: Ja, mir hat ein russischer Geistlicher gesagt, der auch Theologieprofessor ist, dass er Probleme hat, noch weiterhin in dieser Kirche zu sein. Und das hört man auch von anderen Geistlichen, auch von höheren Rängen, weil sie meinen – das wird nicht offen gesagt –, dass der Patriarch zum Beispiel sich falsch verhalten hat. Und interessant ist ja auch, dass eine Folge dieses, sage ich mal, Skandals um Pussy Riot ist, dass auf einmal wieder Skandale ausgegraben wurden um den russischen Patriarchen, dass er zum Beispiel eine 30.000-Euro-Uhr trägt. Die Frage ist, wo hat er sie her? Oder es wird aus seinem Luxusleben, also mit Riesenwohnung, dicken Autos – er fährt einen Maybach zum Beispiel –, wurde auf einmal kritisiert. Und dann haben russische Journalisten gegraben und gesagt, die Christi-Erlöser-Kirche ist ja eigentlich in dem Sinne keine Kirche, das ist ja ein Business-Unternehmen! Da gibt es eine unterirdische Garage, da gibt es Geschäfte, da gibt es Autoreparaturwerkstätten. Gehört das in die Kirche, und wem gehört das, wurde dann gefragt. Also, der Raum als Kirche ist ja eigentlich in dem Sinne dann gar nicht im Verständnis der russisch-orthodoxen Kirche heilig.

Müller: Die Frauen von Pussy Riot bezeichnen sich als Feministinnen, stellen sich gegen den russischen Machismo. Ist das auch etwas, was die Kirche provoziert?

Siegl: Nicht unbedingt die Kirche, die russische Gesellschaft. Also, allen voran der Präsident Putin, der sich ja gern öffentlich als Macho darstellt und fotografieren lässt ...

Müller: ... bei der Tigerjagd, ja ... Auch wenn er nur betäubt hat, aber trotzdem ...

Siegl: ... ganz genau. Und diese Frauen wehren sich natürlich auch dagegen, dass eigentlich die Frau in der russischen Gesellschaft von heute irgendwo doch noch minderwertig ist. Das war vielleicht in der Sowjetunion sogar mal besser, aber jetzt geht es große Schritte zurück. Die Frauen zählen nicht so viel und Mitglieder dieser Band haben in Interviews gesagt, sie wollen auf Missstände, zum Beispiel auf die Situation der Frau, auf die soziale Situation auch von Kindern aufmerksam machen. Und wenn sie zu einer friedlichen Kundgebung aufrufen, wirkt das ja nicht, dann geht ja keiner hin, dann berichtet niemand drüber. Aber wenn sie so eine Skandalaktion machen, dann wird das natürlich wahrgenommen.

Müller: Sie haben es eben schon gesagt, früher kannte man diese Band eigentlich nicht, inzwischen ist sie weltberühmt. Welche Bedeutung hat diese Kultur, aus der die kommen? Es ist ja eher wohl doch ein Underground-Avantgarde-Phänomen eigentlich für junge Russinnen und Russen.

Siegl: Ja, aber das fängt an, sich doch zu verbreiten. Es gibt zum Beispiel die Künstlergruppe Woina, die machen auch Aktionen, die natürlich vom Staat nicht gelitten sind, und diese jungen Künstler leben so halb im Untergrund und sie haben Zulauf und sie treten manchmal ganz schnell an die Öffentlichkeit, sind dann wieder verschwunden. Und was sie gemeinsam haben, ist, dass sie absolut gegen Putin sind, gegen das System Putin. Sie wollen ein anderes Russland, sie wollen eigentlich ein demokratisches Russland und nicht dieses autoritäre Land, Regime, was Putin in den letzten zehn Jahren in Russland ja mit seinen Leuten errichtet hat.

Müller: Es heißt, dass sich immer mehr russische Künstler solidarisieren, auch Putin-Befürworter eigentlich. Ist das vernehmbar im Land und bringt das was?

Siegl: Ich habe erst gedacht auch, das bringt vielleicht nichts, wenn der Radiosender Echo Moskaus eine Unterschriftenaktion startet, und innerhalb von vier Tagen haben 30.000 Leute unterschrieben. Diesen Aufruf der Künstler, der zunächst 100 Künstler. Aber es ist im Grunde die künstlerisch-intellektuelle Elite des Landes, die sich da solidarisiert hat, also es sind Schauspieler, Regisseure, Musiker, Maler, also ganz unterschiedliche Leute, die einen guten Namen haben in Russland und von denen nicht wenige bis vor Kurzem noch Putin unterstützt haben. Und das verunsichert natürlich die Kreml-Führung auch, das muss man wahrnehmen!

Müller: Schauen wir ganz kurz noch auf den Prozess: Ist das, was wir da erleben, eine, wie manche befürchten, Rückkehr zu den Stalin-Prozessen? Oder wird es ein faires Verfahren gegen die drei geben am Ende vielleicht mit einem Bußgeld von zwölf Euro?

Siegl: Man könnte das nur hoffen. Ich kann es mir so eigentlich nicht vorstellen. Der Riesenaufwand, der betrieben ist, für zwölf Euro, das wird ... Ich habe die Befürchtung, das wird unter Umständen durchgezogen, so wie man damals den Prozess gegen Michael Chodorkowski durchgezogen hat, unter fadenscheinigen Argumenten, weil Chodorkowski politisch auch nicht genehm war. Oder aber – und Russland ist ein Land, da kann man immer sagen entweder oder –, oder Pussy Riot wird wirklich in Bälde freigelassen. Auch das mag ich jetzt nicht ausschließen.

Müller: Elfie Siegl über das Verfahren gegen die Musikerinnen vom russischen Künstlerkollektiv Pussy Riot. Haben Sie vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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