Elektrische Braillezeile

Von Dirk Asendorpf · 05.01.2009
Vor 200 Jahren, am 4. Januar 1809, wurde Louis Braille geboren. Millionen Blinde und Sehbehinderte nutzen heute die von ihm erfundene Schrift. Jeder Buchstabe wird von einem bis sechs leicht erhabenen Punkten dargestellt. Geübte Braille-Leser können so mit ihren Zeigefingern rund 100 Wörter in der Minute ertasten, fast etwa halb so viele wie sehende Leser. Viele Alternativen wurden in den vergangenen Jahren entwickelt und getestet, doch keine konnte sich gegen Brailles einfaches System durchsetzen. Auch am Computer wird die Blindenschrift heute dargestellt: mit einer elektrischen Braillezeile vor der normalen Tastatur.
"Ich arbeite hier an einem Windows-Arbeitsplatz, das ist ganz normal – ich hab hier jetzt leider an diesem Arbeitsplatz keinen Monitor dran."

Einen Bildschirm braucht Carsten Albrecht für die Arbeit am Computer nicht, denn er ist blind. Für Navigation, Texteingaben und das Lesen des Bildschirminhalts benutzt er zwei technische Hilfsmittel, die das Auge ersetzen.

"Ich arbeite mit einem Screenreader, der spricht.
Und was der spricht, zeigt er mir auch auf einer 80er Braille-Zeile an. Jedes Braille-Modul besteht aus acht Punkten, die normale Braille-Schrift besteht ja eigentlich aus sechs Punkten, aber man braucht ja bestimmte Ankündigungszeichen, man muss erkennen können, ob was groß oder klein geschrieben ist oder etwas unterstrichen ist, jetzt sehen Sie z.B. der Papierkorb, der ist hier unterlegt mit Punkt 7 und 8, und dafür hat man dann diese Acht-Punkt-Brailleschrift eingeführt.
Ich kann dann auch mit der Braillezeile – oberhalb der einzelnen Module habe ich so Knöpfe, die nennt man Routingtasten, mit deren Hilfe kann ich ganz schnell z.B. in einem Text zu einem falsch geschriebenen Wort springen oder ich kann ganz schnell ein Ikon auf dem Desktop anklicken, um es so zu aktivieren. Ich klick mal auf den Internet-Explorer."

Carsten Albrecht ist ein geübter Computernutzer. Als Mitarbeiter des Hamburger Informationspools Computerhilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte, kurz Incobs, testet und bewertet er seit acht Jahren technische Assistenzsysteme – von der elektronischen Lupe, die Kleingedrucktes auf Schlagzeilenformat vergrößert, bis zum Vorlesesystem, das gedruckten Text einscannen, die Worte erkennen und mit einer künstlichen Stimme wiedergeben kann. Seine Berichte tippt Albrecht mit zehn Fingern auf einer ganz normalen Tastatur in den Computer.

"Viele Blinde, die können ja schreiben wie die Wilden. Spracheingabe ist bei Blinden gar nicht unbedingt so gefragt, bei nur Blinden. Dann eher bei Körperbehinderten, die auch blind sind. Viele Blinde, die ich kenne, die schreiben lieber direkt. Weil es schneller geht. "

Und das nicht nur am Computer, sondern auch noch ganz klassisch mit Stichel und Klapptafel.

"Die hat neun Reihen à 27 so kleine Kästchen. Und dann lege ich ein Blatt ein und dann mache ich spiegelverkehrt mit nem Stichel zupp, zupp, zupp kann ich dann noch von rechts nach links schreiben. Ich bin ja damit groß geworden. Meinen ersten Braille-Computer habe ich kennengelernt Anfang der 80er, da war ich bereits 22. Da musste ich mir ja vorher die Jahre schon anders helfen."

Als Louis Braille vor genau 200 Jahren in Coupvray bei Paris geboren wurde, war die Schrift nur Sehenden zugänglich. Im Alter von drei Jahren verletzte sich der kleine Louis mit einer Ahle aus der Schusterwerkstatt seines Vaters am Auge. Die Infektion erfasste auch das zweite Auge und mit fünf Jahren war er vollständig erblindet. Lesen und Schreiben wollte er trotzdem. Er begann, als Buchstabenersatz leicht tastbare geometrische Formen aus Leder zuzuschneiden Mit 12 Jahren lernte er die militärische Nachtschrift des Hauptmanns Barbier kennen. Sie übersetzte jeden Laut in eine bestimmte Anordnung aus elf erhabenen Punkten. Braille fand das zu kompliziert. Mit 16 Jahren hatte er sein eigenes System geschaffen: Die sechs Punkte der Brailleschrift reichen aus, um 64 verschiedene Zeichen darzustellen – genug für alle Buchstaben des Alphabets, die Zahlen und Satzzeichen. Weltweit nutzen heute rund 40 Millionen Blinde Brailles geniale Erfindung.

"Für die Blinden ist es wirklich derjenige, der den großen Schritt getan hat. Der den Blinden es ermöglicht hat, den Fuß in die Welt der Sehenden zu setzen, in die Bildungswelt, in die Kunstwelt, überhaupt mit Sehenden dann kommunizieren zu können und die Medien zu nutzen, die auch Sehende früher genutzt haben: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften."

Mit Radio und Hörbuch haben Blinde inzwischen auch ohne Brailleschrift Zugang zur medialen Welt. Und der Computer ist für viele zum unverzichtbaren Werkzeug geworden. Der blinde Bremer Hajo Horras nutzt ihn täglich.

"Manchmal ist es auch ein bisschen nervig, weil man immer auf das Internet verwiesen wird und dann viele Leute auch Schwierigkeiten damit haben. Viele ältere Sehbehinderte und Blinde, die können damit überhaupt nichts anfangen. Aber für mich ist es ne große Bereicherung, dass ich halt viele Sachen nachschlagen kann, Fernsehprogramm, Radioprogramm, ist gar kein Problem mehr. Fahrplanauskunft, Telefonauskunft ist kein Problem. Das sind ja so Sachen, wo man sonst immer jemand einspannen musste."

Carsten Albrecht sieht diese Entwicklung nicht nur positiv. Schon seit einigen Jahren erscheint Literatur für Blinde immer häufiger als Hörbuch anstatt in Brailleschrift. Und mancher blinde User verzichtet völlig auf die Braillezeile vor der Tastatur.

"Es gibt leider Leute, die vertreten den Standpunkt: Ich habe einen Screenreader und mir reicht die Sprachausgabe. Aber bei diesen Leuten merkt man dann, wie schlecht die schreiben. Das ist ein moderner Analphabetismus. Dann lesen Sie in Mailinglisten Hannova – mit A. Weil die Sprachausgabe, das ja nicht so deutlich spricht wie Hannover, da verstehen die dann Hannova und schreiben auch Hannova. Das ist schlechter Stil. Wenn so jemand ne Bewerbung schreibt und schreibt so wie er auch spricht, weil er nicht richtig Braille lesen kann. Wenn wir Blinden aufhören, unsere ureigenste Schrift zu vernachlässigen und zu verlernen, dann glaube ich, hängen wir uns ein Stückweit ab und können eventuell, wenn wir Pech haben, mit der sehenden Welt nicht mehr mithalten. Denn die Sehenden, die sind ja noch stärker auf ihre Schrift angewiesen, das wird ja alles immer optischer. Ich denke, wir sollten wirklich auf die Brailleschrift achten und sie nicht vernachlässigen."