Electro

Geheimnisvolle Unterwasserwelten

Von Martin Böttcher · 19.12.2013
Sea Songs, Lieder, die sich der See und allem Maritimen widmen, gibt es - und damit schon mal Entschuldigung für das platte Wortspiel - wie Sand am Meer. Dass das nicht immer mit Sehnsucht, Seemännern und Romantik zu tun haben muss, zeigte das mysteriöse Duo Drexciya aus Detroit, das von 1989 bis 2002 existierte und in Techno-Electro-Kreisen noch heute legendären Ruf besitzt.
Die instrumentalen Stücke von Drexciya tragen Titel wie Lost Vessel – verlorenes Schiff, Neptuns Höhle oder auch: Song of the Green Whale. Jetzt findet eine großartige Reihe, die noch einmal einen ganz neuen Zugang zu diesem richtungsweisenden Electronic-Duo ermöglicht, ihren Abschluss: Journey of the Deep Sea Dweller.
Gerade eben hat das niederländische Clone-Plattenlabel Teil 4 dieser Reihe herausgebracht: unveröffentlichte und neu gemasterte Aufnahmen aus den Jahren 1989 bis 2002. Wer sich für elektronische Musik interessiert, kann hier erkennen, wie wichtig dieses Duo für die Entwicklung von Klängen und Rhythmen und Ästhetiken der Technowelt war.
Ein Unterwasser-Staat
Drexciya haben sich, in bester Techno-Manier, immer vor der Öffentlichkeit versteckt: Interviews, wenn überhaupt, dann nur mit Maske, zu den Platten kaum Informationen, lange Zeit war nicht klar, wer überhaupt hinter Drexciya steckte. Dafür aber strickten James Stinton und Gerald Donald an einem Mythos ähnlich dem von Platos Atlantis: Drexciya, so verkündeten sie auf ihrer 97er Platte "The Quest", sei ein Unterwasser-Staat.
Dort lebten die Drexciyaner, ein Volk, das entstand, als schwangere Sklavinnen während der Überfahrt nach Amerika von Bord geworfen worden und ihre ungeborenen Kinder sich am Meeresboden zu eigenständigen Lebewesen entwickelt hätten, die unter Wasser atmen könnten. Musikalisch wurde er Mythos auch umgesetzt – eigentümliche Unterwassersounds erschufen Drexciya mit Hilfe ihrer elektronischen Gerätschaften.
Substanz und Tiefgang
James Stinton und Gerald Donald nutzten futuristisch anmutenden Electro, Ambient Music und Industrial Sounds, um ihren Mythos von der Unterwasser-Spezies der Drexciyaner in Klang umzusetzen. Die erfundene Geschichte selbst wirkt auf den ersten Blick wie billige Science Fiction, hat aber bei näherer Betrachtung durchaus Substanz und Tiefgang: Man benutze die Musik und den Mythos, um besser erklären zu können, wie man sich als Schwarzer mitunter in den USA fühlte – wie Aliens nämlich, denen man ihre ursprüngliche Heimat weggenommen hätte und die man in eine fremde Umgebung verpflanzt hätte. Aquatopie als Fluchtpunkt - Drexciya sind damit eng verwandt mit dem Afrofuturismus von Sun Ra.
Das Duo aus Detroit, das heute in einschlägigen Kreisen Legendenstatus genießt, machte nur bis 2002 zusammen Musik. Damals nämlich starb überraschend einer der beiden, James Stinton, nach einem Herzinfarkt. Und mit dem Tod wurde überhaupt erst mehr über ihn bekannt: Er hatte neben der Musik als Lastwagenfahrer gearbeitet. Die Original-Platten von Drexciya, die auf Labeln wie Tresor, Underground Resistance und Submerge veröffentlicht wurden, sind heute zum Teil viel Geld wert. Das niederländische Clone-Label aber hat gerade noch einmal eine Best-of-Compilation herausgebracht – Journey oft he Deep Sea Dweller Teil 1 bis 4. Ein Tauchgang für Anfänger und Fortgeschrittene, sozusagen.