Elazar Benyoëtz

Sätze wie Küsse

Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoëtz
Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoëtz © picture alliance / dpa / Foto: epa apa Helmut Fohringer
Von Thomas Becker  · 10.04.2015
Kurze Sprüche, humorvoll und philosophisch – ein guter Aphorismus bringe die Weisheit eines ganzen Buches auf den Punkt, schrieb einst Theodor Fontane. Einer der einflussreichsten deutschsprachigen Lyriker ist der Israeli Elazar Benyoëtz.
Arthur Schnitzler, Franz Kafka, Elias Canetti – sie alle sind als Schriftsteller berühmt geworden. Sie alle waren Juden. Was weniger im Fokus der Öffentlichkeit steht: Diese und viele andere jüdische Schriftsteller haben auch Aphorismen geschrieben. Aphorismen, das sind und oft auch in Parodoxien formuliert, "Ein guter Aphorismus bringt die Weisheit eines ganzen Buches auf den Punkt", schreibt Theodor Fontane. Was aber zeichnet gerade die jüdische Aphoristik aus? Mit dieser Frage haben sich Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert vom Deutschen Aphorismen-Archiv in Hattingen beschäftigt – und einen deutschsprachigen Aphoristiker aus Jerusalem eingeladen, der gegenwärtig als sehr einflussreich und Erneuerer der Gattung gilt.
Elazar Benyoëtz: "Keine Konfession, die nicht zugleich Werbung wäre.
Ich lasse mir vom Gedächtnis keine Erinnerung vorschreiben.
Mit einem Wort ist viel gesagt, mit einem Schlag viel mehr."
Es sind Sätze aus einer Lesung, die Elazar Benyoëtz vor einigen Wochen in Hilden bei Düsseldorf gehalten hat. Benyoëtz ist dazu extra aus Israel angereist, wo er lebt. Er trägt eine Baskenmütze und ist ganz in Schwarz gekleidet, was seinen weißen Vollbart noch mehr zum Vorschein bringt. Der 78-Jährige predigt seine Sprüche wie einst Salomo, er redet langsam und setzt lange Pausen, in denen Sinn und Bedeutung nachhallen. Der Klang seiner Stimme erweckt den Eindruck: Wenn er das sagt, wird es wohl stimmen. Benyoëtz selbst ist da skeptischer und meint: "Der Aphoristiker beginnt, wenn er mit seiner Weisheit am Ende ist."
Benyoëtz: "Bete ich leise, ist Gott mein Herz, werde ich laut, ist er mein Ohr.
Der schmerzlichste Verlust ist der versäumte Dank, das eine versäumte Wort verstimmt das Alter.
Alle Fragen um Gott dienen der Fraglosigkeit.
Von der Überzeugung verlassen werden Zweifel andächtig."
So geht das 70 Minuten lang, Satz um Satz, Gedanke um Gedanke, unterbrochen nur von der Musik des Wuppertaler Ufermann Orchesters.
"Es ist nicht einfach eine Lesung oder ein Vortrag von ihm. Da fehlen mir auch die Worte, es zu beschreiben. Am ehesten fällt mir ein: Es ist eine Andacht. Mit Worten",
sagt Jürgen Wilbert, Vorsitzender des Deutschen Aphorismen-Archivs in Hattingen. Und der Literaturwissenschaftler Friedemann Spicker fügt an:
"Benyoëtz arbeitet an den Leseabenden sehr, sehr intensiv. Kein Abend ist wie der andere. Er bereitet sich monatelang auf solche Abende vor. Sie sind auch eigene Einheiten. Sie sind zum Teil als eigene Publikationen veröffentlicht worden: von Aphorismus, von Zitat, von autobiografischer Reminiszenz, also ganz eigene Mischformen hat er da entwickelt."
Franz Kafka, Karl Kraus, Arthur Schnitzler
Friedemann Spicker hat die deutsch-jüdische Aphoristik der vergangenen zwei Jahrhunderte untersucht. Ausgangspunkt war seine Beobachtung, dass besonders viele jüdische Autoren Aphorismen verfasst haben: Rahel Varnhagen, Ludwig Börne und Heinrich Heine etwa im 19. Jahrhundert, Franz Kafka, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Kurt Tucholsky und Elias Canetti im 20. Jahrhundert. Einen gemeinsamen, jüdischen, Nenner zu finden, ist allerdings nicht so einfach.
Spicker: "Das Erste, was mir aufgefallen ist, dass man da sehr vorsichtig sein muss, dass man nicht in irgendwelche Klischeefallen tappt. Die größte Klischeefalle ist die: der jüdische Witz, den es erst seit dem 19. Jahrhundert gibt, infolge der jüdischen Selbstemanzipation. Und wenn man sich vorstellen würde, ja, jüdischer Aphorismus ist durch Witz gekennzeichnet, dann wird man, wenn man das erforscht, wie ich das gemacht habe im letzten Jahr, feststellen: Das ist leider falsch. Man kann das bei sehr vielen Aphoristikern verfolgen. Aber man kann dann auch sehr leicht eine Gegenreihe darstellen: von Varnhagen über Schnitzler, über Elazar Benyoëtz, die sich in dieses Klischee überhaupt nicht einordnen lassen."
Nicht eindeutig zu beantwortet sei auch die Frage, wie das Judentum überhaupt zu definieren ist.
Spicker: "Bedeutet Judentum jetzt Glaubensgemeinschaft? Oder Volkszugehörigkeit? Oder Schicksalsgemeinschaft? Das ist also schon eine sehr große Bandbreite. Und es gibt eine Anthologie aus den 60er-Jahren: ´Jüdische Aphorismen`. Und es gibt einen großen Band: ´Jüdische Schriftsteller`. Die tun sich mit einer Definition sehr, sehr schwer."
Dennoch gebe es Gemeinsamkeiten: Das Denken in Paradoxien und Ambivalenzen sei bei jüdischen Autoren häufig zu finden. Etwa bei Elias Canetti, der schreibt: "Ich will mich so lange zerbrechen, bis ich ganz bin." Friedemann Spicker meint, dass sich jüdische Aphorismen zudem an einer deutschen Gesellschaft rieben, die ihnen gleiche Rechte lange vorenthielt. Nach 1945 seien außerdem die Themen Exil und Holocaust vorherrschend. Der Aphorismusexperte nennt drei Beispiele.
"Alfred Polgar: ´Die zufällig nicht umgebracht wurden, müssen ihren Frieden machen mit denen, die zufällig nicht mehr dazu gekommen sind, sie umzubringen.`
Theodor W. Adorno: ´In der Erinnerung der Immigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten als wäre er vom Freischütz erlegt worden.`
Und der letzte von Werner Kraft: ´Erst nach 1933 wusste ich endgültig und für immer, dass ich kein Deutscher war, dass ich ein Jude bin.`"
Sein Denken kreist um mehr
Auch Elazar Benyoëtz schreibt über das Exil und den Holocaust. Sein Denken kreist aber um mehr – und lässt nichts aus: Immer wieder geht es um das Judentum und seine Identität, um Gotteserfahrungen, um die Möglichkeiten der Sprache, um Heiliges und Scheinheiliges. Wie aber geht Benyoëtz vor, um seine Aphorismen zu finden?
Einen Tag vor seiner Lesung in Hilden, ist er bereit, Auskunft zu geben, was eher selten vorkommt. "Im Interview endet das Gespräch", lautet ein Aphorismus von ihm, der wie eine Warnung an Journalisten klingt. Für heute aber hat er zugesagt, auf die Gefahr hin, redselig zu werden, was sich, wie Benyoëtz mit Humor meint, für ihn eigentlich nicht gehört. Denn als Aphoristiker will er seine Gedanken in der Nussschale nur eines Satzes präsentieren.
Benyoëtz: "Ein geküsster Satz von der Sprache, das ist das Höchste. Und um diesen Kuss, der manchmal ein Judaskuss ist, bin ich ewig bemüht. Weil es nur ein Satz ist, muss es so viel wiedergeben, widerspiegeln, nachhallen lassen können. Sonst ist es zu mager. Aber der Satz muss einmal ganz schlicht und simpel verstanden werden, und dann muss an einer Ecke gemerkt werden: Ne, das kann so simpel nicht gedacht gewesen sein. Ich muss einfach jeden Tag schreiben. Gott sei’s geklagt. Weil wissend, ich schreibe und weiß dabei, dass 90 Prozent überhaupt nichts wert ist – und lasse es liegen. Ich schreibe nicht auf einen Satz hin. Der wird sich ergeben. Und irgendwann kehre ich zurück zu diesen Seiten und dann beginnt das Ausmisten. Und da ist viel Arbeit. Und dann komme ich auf einen Satz. Ob es mir gleich glückt und treffend erscheint, das ist selten. Das dauert immer lange."
Am Tag nach dem Interview beginnt die Lesung in Hilden. Und dann sitzt er da. Ein Aphoristiker, der zu schreiben begonnen hat, als er mit seiner Weisheit am Ende war.
"Nicht jeder Glaube fällt mit Gott zusammen.
Es gibt die Welt, in der man lebt, und die andere, in der man stirbt. Man stirbt nicht in der Welt, in der man lebte.
Das war des Lebens genug. Dankeschön."
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