Eiskalte Hütte

02.07.2012
Eine Hütte am See mag sehr reizvoll sein. Im Winter aber kann das Leben in so einer Bretterbude sehr ungemütlich werden, vor allem in Alaska, wenn Mann und Frau, seit 30 Jahren unglücklich verheiratet, dort aufeinander angewiesen sind.
Eine einsame Hütte auf einer einsamen Insel ist kein Traumhaus. Sie kann aber durchaus ein Lebenstraum sein. Für Gary ist das so. Er will sich in die Einsamkeit der Wildnis zurückziehen und auf einer Insel mitten in einem riesigen See Alaskas den Winter verbringen. Gary ist ein Mann Mitte fünfzig, der nach 30 Ehejahren vom Gefühl, sein Leben verpasst zu haben, angetrieben wird. Verbissen setzt er seinen Hütten-Plan um und lässt sich dabei auch von widrigsten Wetterverhältnissen nicht aufhalten. Schließlich aber muss er einsehen, dass das wacklige Ding, das er da zusammennagelt, nicht viel mit seinen Träumen zu tun hat, sondern eher ein Abbild seines verkorksten Lebens ist.

Seine Frau Irene findet den Kampf mit den Elementen und der Hütte weniger reizvoll. Aus Angst, Gary zu verlieren - so erklärt sie es sich jedenfalls selbst - macht sie trotzdem mit. Sie sitzt im Boot, obwohl es stürmt, sie schleppt Holz im eisigen Regen, holt sich natürlich eine Erkältung und leidet fortan unter nagenden Kopfschmerzen. Ihr Leiden ist ihre Rache am Gatten, den der Zwang, sich um sie kümmern zu müssen, noch verbissener macht. Wie die beiden überhaupt 30 Jahre nebeneinander ausgeharrt haben, bleibt ihr Geheimnis.

Die Ehe - das ist die nicht ganz neue und nicht besonders originelle Botschaft David Vanns - ist die Hölle. Und das von allem Anfang an: Auch die Tochter Rhoda lebt mit einem ziemlich unsympathischen Zahnarzt zusammen, der ihr, weil sie sich das wünscht, einen Heiratsantrag macht, der aber nichts anderes im Sinn hat, als möglichst viele Patientinnen zu vögeln. Während das Drama der Eltern auf der Insel seinen Lauf nimmt, bereitet sich in der nächsten Generation also schon die nächste Katastrophe vor.

"Die Unermesslichkeit" lautet der etwas verblasene deutsche Titel des Romans, der im 2011 erschienenen amerikanischen Original schlicht "Caribou Island" hieß. Unermesslich ist allenfalls die strenge Natur in ihrer Unnahbarkeit. Vann, 1966 in Alaska geboren, kennt sich damit aus. Er lädt das Geschehen mit elementaren Kräften auf, um nach romantischem Vorbild den Gefühlsstürmen im Innern seiner Protagonisten die Unwetter über dem See entgegenzustellen. Die menschlichen Beziehungsprobleme aber, um die es dabei geht, haben doch eher amerikanische, kulturell überschaubare Dimensionen: Liebe, Sex, Zukunft, Geld, Verlorenheit, Sinnlosigkeit. Die Existenznöte der Mittelschicht werden auch nicht dadurch interessanter, dass sie in einer Welt angesiedelt sind, in der die Männer karierte Hemden tragen, Pickups fahren und Bärengeschichten erzählen.

Die Hütte auf der Insel ist Vann-Lesern schon aus seinem vorigen Roman "Im Schatten des Vaters" bekannt, der zu einem internationalen Besteller wurde. Mit dem Vater-Sohn-Drama, das er darin erzählte, verarbeitete er sein eigenes Trauma: den Selbstmord seines Vaters, der ihn als Dreizehnjährigen zurückließ. In "Die Unermesslichkeit" variiert er dieselben Themen, indem er sie in eine Ehe-Geschichte transformiert.

Vanns Stärke sind knappe Dialoge voller Sarkasmus und gezielter Bösartigkeit. Er beherrscht auch Perspektivwechsel und stellt das Leiden an der Ehe mal aus Irenes, mal aus Garys Sicht dar. Doch allen Stürmen zum Trotz läuft der Roman reibungslos auf das erwartbar schreckliche Ende zu. Die Figuren sind allzu klischeehafte Erfüllungsgehilfen des erzählerischen Programms, um zu berühren. Vann, Professor für Creative Writing an der University San Francisco, weiß, wie man Romane baut. Doch mehr als solide Literatur-Ware ist das nicht. Merkwürdig, dass so ein Werk, das man eher bei einer der großen Buchfabriken vermuten würde, ausgerechnet bei Suhrkamp erscheint. Vielleicht ist es deshalb von der Kritik bisher über Gebühr positiv aufgenommen worden.

Besprochen von Jörg Magenau

David Vann: "Die Unermesslichkeit"
Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
352 Seiten, 22,95 Euro
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