Forschung zur Empathie

Einzelschicksale berühren mehr als die von Gruppen

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Das Gesicht eines Geflüchteten ist durch ein Guckloch hindurch zusehen, aufgenommen auf der MS Aquarius von SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen am 30.01.2018
Ein Geflüchteter auf dem Mittelmeer: Mit einzelnen Menschen haben wir ein stärkeres Mitgefühl. © picture alliance / Laurin Schmid/SOS MEDITERRANEE
Von Simon Schomäcker · 02.07.2020
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Der Tod von George Floyd hat die Welt erschüttert. Ebenso wie das Bild des dreijährigen Alan Kurdi, der auf der Flucht starb. Einzelschicksale bewegen uns stärker als Nachrichten über hunderte Ertrunkene. Forscher können erklären, warum das so ist.
Die US-Fernsehserie "Roots" erzählt vom Schicksal des jungen Kunta Kinte, Mitte des 18. Jahrhunderts. Der 17-Jährige wird mit seiner Familie aus Gambia verschleppt und in Amerika als Sklave verkauft. "Roots" gilt als Meilenstein der Fernsehgeschichte: Die letzte Folge des Epos über ein Tabu der US-Geschichte sahen 1977 rund 85-Prozent aller Haushalte in den USA.
Thomas Münte, Neurologe an der Universität Lübeck, nennt einen wichtigen Grund für den Erfolg. "Aus der großen Gruppe von afroamerikanischen Sklaven nehmen sie eine Person. Diese eine Person wird geschildert – und mit dieser Person haben wir Mitgefühl."

Ermüdung der Empathie

Die Macher der Serie haben so das Phänomen umschifft, das Forscher heute "Compassion fade" nennen. Es beschreibt, dass das Mitgefühl für einen einzelnen Menschen - wie die Hauptfigur Kunta Kinte - größer ist als das für eine Gruppe. Diese Ermüdung der Empathie hat der US-Psychologe Paul Slovic bereits vor mehr als 50 Jahren erstmalig erforscht.

"Er hat zum Beispiel gefunden, dass, sobald mehr als eine Person involviert sind, ist man schon nicht mehr gewillt, genauso viel Geld zu spenden, als wenn es nur ein Opfer ist", sagt Thomas Münte. "Das heißt: Schon bei einer Zahl von zwei Opfern geht unser Mitgefühl in die Knie."

Forschung an neurologischen Ursachen

Der Psychologe Slovic interessiert sich bei seinen Forschungen vornehmlich dafür, welche Folgen unterschiedlich ausgeprägtes Empathieempfinden für unser Verhalten hat. Den Mediziner Thomas Münte interessieren vor allem die neurologischen Ursachen. Zusammen mit dem Psychologen Marcus Heldmann hat er erforscht, was genau Mitgefühl im Gehirn auslöst.
Für ihr Experiment griffen die Wissenschaftler auf erfundene Radionachrichten zurück, so Heldmann. "Diese Kurznachrichten waren konstruiert anhand der Kriterien, dass es entweder eine emotionale Geschichte sein sollte oder eine neutrale Geschichte."

Hier ein Beispiel für so eine Nachricht, die das Schicksal einer Gruppe schildert:
Anapurna, Nepal. Wie das chinesische Innenministerium heute bekannt gegeben hat, sind in den letzten sechs Monaten insgesamt mehr als zwei Dutzend Bergsteiger bei dem Versuch, den 8091 Meter hohen Anapurna zu bezwingen, in lebensbedrohliche Situationen geraten.

Empathie stimuliert bestimmte Hirn-Areale

Grundlage für das Projekt waren bekannte Ergebnisse aus Hirn-Aktivierungsstudien. Darin konnten Forscher zeigen, dass Empathie bestimmte Hirn-Areale stimuliert. Sie liegen im Stirnhirn, das auch Sprache und Persönlichkeitsmerkmale steuert.
Die Lübecker Wissenschaftler vermuteten, dass das Schicksal von mehreren Menschen die Nervenzellen dort weniger anregt. Um das belegen zu können, kamen die erfundenen Nachrichten ins Spiel.

"Die Hälfte der Geschichten schilderte das Schicksal eines Einzelnen oder das Schicksal einer Gruppe. Und die Probanden hatten nichts anderes zu tun, als diesen Geschichten zuzuhören...", erklärt Marcus Heldmann.

… und zwar in einem MRT-Scanner, der die Hirnaktivität der 21 Probandinnen und Probanden erfasste. 20 verschiedene Aufnahmen bekamen die Leute zu hören.
Darunter diese, die sich auf eine einzelne Person konzentriert:
Paris. Jérôme Favre, Museumswärter im berühmten Louvre, hat, so stellte sich jetzt heraus, während der drei Jahrzehnte seines Dienstes im Museum sämtliche Bilder im ersten Stock des Gebäudes kopiert.

Funktion der Spiegelneuronen

Die Auswertung zeigte: Thomas Münte und Marcus Heldmann haben Recht behalten. Wie stark die Versuchsteilnehmer Mitgefühl empfinden, lässt sich im Stirnhirn ablesen.

"Für Geschichten mit mehreren Personen war die Aktivierung vernachlässigbar. Wenn hingegen das Schicksal einer Einzelperson geschildert wurde, dann sprang diese Region richtig an", sagt Thomas Münte. "Das zeigt dann, dass dieser Befund eine neurobiologische Grundlage hat."

Dieses Ergebnis unterstreicht auch die Funktion der Spiegelneuronen. Sie befinden sich in dem untersuchten Hirnareal. Diese Nervenzellen sorgen dafür, dass uns andere mit ihren Gefühlen anstecken können - etwa wenn wir eine Person lachen oder gähnen sehen.
Außerdem entscheiden sie auch mit, ob wir einen Menschen sympathisch finden, weil wir uns mit ihm identifizieren. Würde unser Gehirn das mit mehreren Leuten gleichzeitig machen, käme es schnell zu einer Reizüberflutung.

Auch vernunftgeleitete Denkprozesse sind wichtig

All das geschieht in unserem Stirnhirn unbewusst – in einer Gesellschaft kann das zum Problem werden. Deshalb sollten wir auch von einer Einzelperson auf eine Gruppe schließen können, sagt Marcus Heldmann.

"Das ist gerade bei Entscheidungsträgern wichtig, die in der Regel nicht über ein einzelnes Schicksal entscheiden, sondern über das Schicksal einer Gruppe. Dafür brauchen wir Denkprozesse, die es versuchen, diese Art von Entscheidungen auf eine rationale Ebene zu heben…"

… also auf eine vernunftgeleitete Ebene. Sie ist etwa für Firmenchefs wichtig, die über die Zukunft ihres Betriebes – und damit über eine Gruppe – entscheiden müssen. Der Verstand arbeitet dabei bisweilen gegen die unbewussten neurologischen Vorgänge, die unsere Empathie auslösen. Wie stark sie sind zeigt sich etwa daran, wenn es darum geht, über Fehler zu sprechen.

"Es gibt zum Beispiel Studien, die zeigen, wenn man sich alleine entschuldigt, gegenüber Konsumenten oder so, ist das viel effektiver, als wenn sich zum Beispiel die Führungsmannschaft einer Firma hinstellt und sagt: 'Das tut uns leid!'", weiß Marcus Heldmann.

Effekt tief im Gehirn verankert

Welche neurologischen Gründe das hat, konnten die Lübecker Forscher zeigen: Die fehlende Resonanz des Stirnhirns auf Katastrophen oder Schicksale mit vielen Personen lässt uns vergleichsweise gleichgültig zurück.

Das Leiden eines einzelnen wie der Serienfigur Kunta Kinte dagegen berührt uns. Und diesem Effekt können wir uns nicht entziehen, weil er tief in unserem Gehirn verankert ist.
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