Einzelhandel über Rückkehr aus der Beschränkung

"Manche Proteste sind eine Zumutung für unsere Demokratie"

29:33 Minuten
Teilnehmerin einer "Corona-Leugner" Demonstration in Heidelberg. Sie hält einen mit den Worten "Grundgesetz" und "Widerstand" beschriebenen Regenschirm.
Diese Protestierende fühlt sich grundsätzlich im Regen stehen gelassen. © picture alliance / Daniel Kubirski
Moderation: Annette Riedel · 16.05.2020
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Die Krise im Handel ist nicht vorbei, sagt Antje Gerstein vom Spitzenverband des Einzelhandels. Auch wenn die Beschränkungen notwendig gewesen seien: Man müsse in einer Demokratie streiten. Bestimmte Proteste seien aber "rücksichtslos und inakzeptabel".
Normalerweise reden gerade Ökonomen und Unternehmer gerne davon, dass der Staat sich aus der Wirtschaft rauszuhalten hat. Die Politik soll ordentliche Rahmenbedingungen schaffen. Aber in einem nicht gekannten Maße hat die Politik jetzt in der Corona-Krise in die Wirtschaft, in die unternehmerische Freiheit eingegriffen. Hat sich damit das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft verändert?
Auch wenn man natürlich über den Sinn einzelner Maßnahmen diskutieren könne, so dürfe man sich dem gesellschaftliche Klima "nicht hingeben", das im Zusammenspiel von Verschwörungstheoretikern und Extremisten entstehe, sagt Antje Gerstein. Zudem setzten sich die Demonstranten teilweise "rücksichtslos" über die gesellschaftliche Verabredung hinweg, Distanz zu wahren, um Ansteckung zu vermeiden. "Verschwörungstheoretiker, Impfgegner, Pegida und AfDler dieser Welt" propagierten zudem "eine bedenkliche Wissenschaftsfeindlichkeit".

Gesundheit versus Wohlfahrt der Gesellschaft

Die Handelsverbandsvertreterin bescheinigte den Regierenden in Deutschland bei der schwierigen Abwägung zwischen Gesundheit und Wohlfahrt beziehungsweise zwischen politisch und wirtschaftlich Gebotenem ein verantwortungsvolles, "besonnenes und gut abgewogenes Handeln". Es sei auch immer erklärt worden, "wohin die Reise geht" und aufgrund welcher Fakten und Daten "die Reise in der Form angetreten wird" und dass Beschränkungen nicht von Dauer sein würden.

Schattenseiten des Föderalismus

Der Handel, so Gerstein, habe allerdings in der Krise "riesige Probleme mit dem Föderalismus" gehabt. Für die Mitglieder vom Handelsverband Deutschland habe es bedeutet – und bedeute es noch – sich bei Beschränkungen und Förderprogrammen "in 16 Bundesländern mit 16 verschiedene Verordnungen auf Landes- und teilweise sogar auf Kommunalebene" auseinanderzusetzen. Allerdings ermöglichten föderale Strukturen andererseits, auch Maßnahmen regional zugeschnitten "am Infektionsgeschehen zu orientieren".
Die Geschäftsführerin Europapolitik des Handelsverbands HDE, Antje Gerstein auf einem Schwarz-Weiß-Porträt.
Antje Gerstein© DIe Hoffotografen

Rettungsprogramme und Konsumanreize gefragt

Auch wenn die Phase der Ladenschließungen vorbei sei, im Nicht-Lebensmittel-Einzelhandel – in der Textil-Branche etwa – rechne man im Verband mit teilweise nur "zwanzig, dreißig Prozent" Umsatz im Vergleich zu vor der Krise. Das sei "eine ganz bedrohliche Situation" für viele Händler. Deshalb fordere der HDE einen "Nothilfefond", um zumindest diejenigen zu unterstützen, deren Existenz bedroht ist. Zudem befürworte man sind sogenannte "Corona-Schecks" für alle Einwohner als einen staatlichen Konsumimpuls.

Virus kennt keine Grenzen

Gerstein begrüßte die Erleichterungen bei Grenzübetritten innerhalb der EU. Man habe "von Anfang an infrage gestellt", ob Grenzschließung das beste Mittel zur Bekämpfung der Pandemie sei, denn "dem Virus sind Grenzen ziemlich egal".

Antje Gerstein ist Geschäftsführerin Europapolitik beim Handelsverband Deutschland, HDE und leitet die Brüsseler Vertretung des Verbandes. Sie war ab 2003 zunächst in verschiedenen Funktionen bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) tätig. Acht Jahre lang leitete sie deren Repräsentanz in Brüssel. Von 2014 bis zu ihrem Wechsel zum HDE 2017 war sie zudem Geschäftsführerin. Vor ihrer Beschäftigung bei der BDA arbeitete sie als Beraterin beim Europabüro für Projektbegleitung (efp) und als Trainerin bei der Landeszentrale für politische Bildung, Stuttgart.


Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Normalerweise reden gerade Ökonomen und Unternehmer gerne davon, dass der Staat sich aus der Wirtschaft rauszuhalten hat. Die Politik soll ordentliche Rahmenbedingungen schaffen – also das Eigentum garantieren, Bildung organisieren, für Infrastruktur sorgen, gute Wettbewerbsbedingungen garantieren und natürlich die Sicherheit. Punkt!
Aber in einem nicht gekannten Maße hat die Politik jetzt in der Corona-Krise in die Wirtschaft, in die unternehmerische Freiheit eingegriffen. Hat sich damit das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft verändert?
Gerstein: Das würde ich so nicht sagen. Diese Krise hat ja alle Akteure der Gesellschaft gleichermaßen getroffen, jeden Privatmenschen und jeden Unternehmer, jeden Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin gleichermaßen. Und es war ja auch keine gezielte Aktion der Regierung gegen die Wirtschaft, sondern es war ja wirklich ein vorher nie gekanntes Ausmaß einer ziemlich abstrakten Bedrohung. Also, ich glaube, das ist schon eine einmalige Situation, wo das Verhältnis Wirtschaft – Staat per se eigentlich gar nicht direkt angesprochen war. Aber dass die Konsequenzen dieser Maßnahmen der letzten zwei Monate für die Wirtschaft natürlich radikal sind und auch in nie gekanntem Ausmaß Auswirkungen haben, das ist natürlich so.
Deutschlandfunk Kultur: Dazu gleich noch mehr. Meinen Sie nicht, dass der Blick aber auf dieses Verhältnis, von dem Sie sagen, "es hat sich eigentlich nicht grundlegend verändert", ein anderer geworden ist? Aus der Gesellschaft heraus wurde ja oft gesagt, "die Politik lässt sich von der Wirtschaft treiben. Die hat gar nichts mehr zu sagen. Die dicken DAX-Konzerne oder die Milliardäre sind diejenigen, die das Sagen haben". Das ist ja schon anders geworden. Die Politik hat in gewisser Weise Terrain zurückgewonnen.
Gerstein: Das könnte man so sehen, aber ich glaube, das ist nicht die Intention gewesen. Es ging nicht darum, dass irgendjemand Terrain zurückgewinnt, sondern es war einfach eine politische Abwägung eines riesigen Dilemmas: Gesundheit der Gesellschaft versus Wohlfahrt der Gesellschaft. Vielleicht kann man das so sagen. Diese Abwägung musste so getroffen werden, wie sie dann getroffen wurde. Ich denke, es war ein sehr verantwortungsvolles Handeln der Regierung. Das ist auch bei der Wirtschaft so angekommen. Es war beeindruckend, wie es gelungen ist, sehr unbürokratisch die Soforthilfen für Kleinstunternehmer auf den Weg zu bringen, dass es gelungen ist, Soforthilfen über die KfW-Kredite auf den Weg zu bringen. Also, all das, denke ich, waren auch sehr vertrauensaufbauende Maßnahmen, die auch bei der Wirtschaft so ankamen.

"Wir sind in Deutschland in einer sehr privilegierten Situation"

Deutschlandfunk Kultur: Trotzdem hört man im Moment kaum mehr – die Frage ist, wie nachhaltig das ist –, aber im Moment hört man kaum noch Kritik an einem überbordenden Sozialstaat oder Forderungen nach einem Minimalstaat, geschweige denn einem Nachtwächterstaat. Man hat schon das Gefühl, dass alle – auch in der Wirtschaft – ganz froh sind, dass wir einen funktionierenden, durchsetzungsfähigen Staat haben, der auch über Mittel verfügt.
Gerstein: Ja also, da sind wir natürlich auch in Deutschland in einer sehr, sehr privilegierten Situation. Ich meine, es heißt ja immer: "Die Krise ist die Stunde der Exekutive." Das haben wir jetzt natürlich wirklich sehr anschaulich erlebt, was das bedeutet. Wir konnten eben jetzt schon sehen, dass Lektionen gelernt wurden seit der Finanzkrise, dass wir jetzt profitieren konnten von einer sehr konsolidierenden Haushaltspolitik in den letzten zehn Jahren. Das Geld war da. Und es waren natürlich wirklich vertrauensbildende Maßnahmen, dass der Finanzminister, als es richtig losging mit dem Lockdown und den Maßnahmen, immer sehr deutlich gesagt hat, "das Geld ist da und wir werden allen, die es brauchen, helfen". Das ging ja dann auch schnell, ich habe es gerade schon erwähnt, mit den Soforthilfen, aber eben auch in Richtung Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit Kurzarbeitergeld etc.
Ich glaube, uns allen – der Wirtschaft natürlich, genauso wie anderen Gesellschaftsgruppen – ist schon auch klar geworden, dass wir sehr viele Errungenschaften haben in Deutschland, die uns gerade zugute kommen.
Deutschlandfunk Kultur: Teilen Sie also die Befürchtungen des Hauptgeschäftsführers Ihres Verbandes, des HDE, Stefan Genth, nicht, der sagt, dass es sehr zahlreiche Eingriffe in die unternehmerische Freiheit gab – darüber brauchen wir, glaube ich, nicht diskutieren, es ist so – aber dass es auf keinen Fall Vorwand sein darf für dauerhafte Einschränkungen verschiedener Grundsätze?
Gerstein: Das ist ja was völlig anderes. Dass es diese Eingriffe jetzt gab, ist richtig. Und die Eingriffe haben wir hingenommen, in Abwägung der verschiedenen Güter, die es hier abzuwägen gilt – nämlich vor allem die gesellschaftliche Gesundheit. Dass das nicht zu einem Dauerzustand werden darf, das ist eine ganz andere Diskussion. Insofern haben wir uns als Handelsverband Deutschland auch wirklich sehr stark engagiert in den letzten Wochen, um eine Exit-Strategie aus dieser aktuellen Situation zu entwickeln, die dann auch wieder zu dem Ausmaß an unternehmerischer Freiheit führt, das wir natürlich langfristig brauchen, um auch sozusagen den Wohlstand, den wir uns hier in Deutschland auch erarbeitet haben, wieder herzustellen.

Faktenfeindliche Proteste

Deutschlandfunk Kultur: Haben Sie insofern auch ein gewisses Verständnis für die Proteste gegen diese Beschränkungen, die es im Moment gibt? Das ist ja eine ein bisschen merkwürdige Melange von Protestierern im Moment: Da sind Extremisten von Rechts und Links dabei und Impfgegner und Verschwörungstheoretiker, aber es sind auch streitbare Demokraten darunter und Menschen, die sich eben genau die Sorgen machen, dass das nicht zurückgeführt wird.
Gerstein: Ich denke, in einer Demokratie muss man streiten. Man kann, wenn man sich jetzt die Maßnahmen im Einzelnen anguckt, sich natürlich auch bei der einen oder anderen Maßnahme durchaus fragen: "Musste das so sein? Wie kommen wir da wieder raus?" Aber das, was ich da im Moment sehe an Demonstrationen, da muss ich wirklich sagen – das ist auch meine persönliche Meinung – das finde ich schon eine echte Zumutung, auch für unsere Demokratie.
Erstmal ganz banal: Diese Menschen, die gerade in Massen auf die Straßen gehen, setzen sich ja über all das hinweg, was im Moment der Common Sense ist in unserer Gesellschaft – nämlich, dass wir uns distanzieren, um möglichst schnell wieder in einen Normalzustand zu kommen und eben andere Mitmenschen nicht anzustecken. Also, das finde ich schon sozusagen eine erste wirklich sehr rücksichtslose Facette dieser Demonstrationen.
Und dann macht mich natürlich die Zusammensetzung derer, die da demonstrieren, schon skeptisch, wenn alle Verschwörungstheoretiker, Impfgegner, Pegida und AfDler dieser Welt sich da plötzlich zusammenfinden zu großen Verschwörungstheorien. Es entsteht ein Klima, wo auch so eine gewisse Fakten- und Wissenschaftsfeindlichkeit propagiert wird. Also, dem sollten wir uns nicht hingeben. Ich finde das wirklich rücksichtslos und inakzeptabel, was da abläuft.
Deutschlandfunk Kultur: Auf der anderen Seite hat es vom Bundesverband mittelständischer Wirtschaft vor kurzem einen Brief gegeben an die Politik. Da stand drin, ich zitiere: "Beenden Sie die einseitige Fixierung auf eine rein virologische Sichtweise und damit das gefährliche Spiel mit den Zukunftschancen dieses Landes." – Das ist nicht Pegida und das sind auch nicht die Impfgegner.
Gerstein: Da kommen wir jetzt eben in den Bereich, wo man sich darüber auseinandersetzen muss: Welche Güter wägt man in welcher Form miteinander ab? Ich meine, wir wissen ja auch – das haben wir auch alle, die sich im Verlauf dieser Krise mit den Themen beschäftigt haben, zur Genüge gelesen – natürlich haben diese Lockdown-Maßnahmen Nebenwirkungen, die teilweise auch gravierend sind. Davor darf man natürlich auch die Augen nicht verschließen.
Also, wir haben die Situation steigender häuslicher Gewalt. Wir haben die drohende Arbeitslosigkeit für viele Menschen. Wir sehen wahrscheinlich einer Rezession entgegen, die für uns insgesamt kritisch werden wird und wo viele Arbeitsplätze verloren gehen werden. Damit müssen wir uns natürlich auseinandersetzen.
Trotzdem, es bleibt dabei – und das haben wir als HDE auch immer sehr deutlich gesagt, das werden Sie auch in jedem unserer Pressestatements finden: Das Vorgehen der Bundesregierung haben wir immer für besonnen und gut abgewogen gehalten. Es ist ja auch immer eigentlich sehr klar erklärt worden, wohin die Reise geht und aufgrund welcher Datenfakten die Reise in der Form angetreten wird.

Riesige Probleme mit dem Föderalismus

Da muss man natürlich immer ausloten. Wir hatten selbstverständlich riesige Probleme mit dem Föderalismus. Das war für viele unserer Mitglieder nicht einfach, in 16 Bundesländern 16 verschiedene Verordnungen auf Landes- und teilweise sogar auf Kommunalebene dann zu implementieren.
Deutschlandfunk Kultur: Die ja aber gut begründet waren, weil natürlich ja nicht nur in den Bundesländern, sondern sogar innerhalb der Bundesländer in den Regionen die Entwicklung, also Vehemenz und das Tempo, mit der sich die Pandemie ausgebreitet hat, sehr unterschiedlich war und von daher natürlich unterschiedliche Maßnahmen geboten waren.
Gerstein: Das sind, denke ich, wieder die zwei Seiten der Medaille. Zum einen bietet der Föderalismus natürlich die Chance, Maßnahmen auch am Infektionsgeschehen zu orientieren. Zum anderen stellt man sich dann natürlich schon Fragen. Wir hatten ja die Situation, dass dann irgendwann Läden bis zu 800 Quadratmeter wieder öffnen durften. Und dann gab es einzelne Bundesländer, da durften auch Läden mit größeren Flächen öffnen, mussten aber dann mit Flatterbändern 800 Quadratmeter abgrenzen. In anderen Bundesländern ging es überhaupt nicht. Da sitzt der Teufel dann im Detail, bringt aber natürlich für unsere Händler vor Ort riesige Probleme, wenn sie in Mecklenburg-Vorpommern eine völlig andere Situation zu bewerkstelligen haben als in Bayern.
Deutschlandfunk Kultur: Wegen unterschiedlicher Wettbewerbsbedingungen, wo es dann zu wettbewerbsverzerrenden Effekten in Nachbarbundesländern kommt ?
Gerstein: Sie müssen sich das so vorstellen: Ein Unternehmen hat ja dann trotz allem eine Zentrale, die die Dinge vor Ort steuern muss, die Prozesse aufsetzt. Wenn man nicht nur in jedem Bundesland, sondern sogar teilweise in jeder Kommune nochmal unterschiedliche Vorgaben hat, dann ist das einfach unwahrscheinlich aufwendig, solche Vorgaben einheitlich einzuhalten. Das bedeutet dann natürlich wieder mehr Kosten, mehr Aufwand, mehr Personal, was alles eben sehr, sehr schwierig war in den letzten Wochen.
"Come in - We're open" steht auf einem Schild aus Holz, welches vor einem Geschäft in der Innenstadt auf einem Liegestuhl steht.
Ungewohnte Öffnung: Nicht jeder weiß, dass Geschäfte wieder offen sind.© picture alliance/Daniel Karmann/dpa
Deutschlandfunk Kultur: Und die Hilfen sind natürlich auch unterschiedlich. Wenn wir mal, weil wir hier dieses Gespräch in dieser Stadt, in diesem Land Berlin führen, uns das anschauen: 14 Bundesländer haben Zuschüsse für Betriebe unter elf Beschäftigten, Berlin nicht. Berlin hat andererseits jetzt Zuschüsse für Betriebe aufgelegt, die zwischen elf und hundert Beschäftigte haben, die entweder keine Kredite von der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der KfW bekommen können oder sie kriegen Zuschüsse zur Bedienung dieser Kredite. Das ist aber nun wieder etwas, was in anderen Bundesländern nicht der Fall ist. Also noch mal: Geht’s da letztendlich auch um die Frage von Wettbewerbsbedingungen?
Gerstein: Das ist immer ein Element, was man im Föderalismus hat. Es gab auch teilweise böse Worte, als das alles so in der Hochphase war, dass es einen "Überbietungswettbewerb an restriktiven Regulierungen" gibt. Das ist mit Sicherheit nicht vordergründig das Ansinnen gewesen, sondern ich glaube tatsächlich, die einzelnen Bundesländer haben hier einfach versucht – ich meine, in Bayern und NRW gab es einfach viel höhere Infektionszahlen als in Berlin – der Situation in ihrem Land und ihrer Region gerecht zu werden.
Deutschlandfunk Kultur: In Ihrem Verband kann man damit leben, dass einige Ihrer Mitglieder, also im Einzelhandel, mehr Zuschüsse bekommen in dem einen oder anderen Bundesland, als andere bzw. manche gar keine Zuschüsse bekommen, während andere sie bekommen?
Gerstein: Wir haben selbstverständlich versucht, das möglichst einheitlich zu lösen. Aber da sind wir natürlich als Bundesverband auch nur mäßig handlungsfähig. Da haben wir Landesverbände vor Ort, die dann natürlich auch wiederum für ihre Mitglieder schauen, dass das passt.
Wir haben aber zum Beispiel dafür gesorgt – und das war tatsächlich ein bundesweites Problem, was alle gleichermaßen betroffen hat –. dass die KfW-Kredite anfangs nicht geflossen sind, weil die Hausbanken hier sich einfach als Nadelöhr herausgestellt haben. Wir haben das dann also zum Glück hinbekommen, dass dann schließlich hundert Prozent Garantie von der KfW übernommen wurde und dann diese Kredite endlich fließen konnten. Also, das war auf jeden Fall ein Erfolgsmoment, wo wir auch wirklich da das sogenannte "level playing field" für alle schaffen konnten.

Lücken in den Fördermöglichkeiten

Deutschlandfunk Kultur: Sie wissen auf der anderen Seite, dass eben viele Ihrer Mitglieder im Verband überhaupt gar keine Berechtigung haben auf diese KfW-Kredite und dass das oftmals gerade die Kleineren sind, die auch am wenigsten Rücklagen haben. In manchen Bundesländern, siehe Berlin, wird ihnen mehr oder weniger geholfen und anderen nicht.
Gerstein: Das haben wir auch angeprangert als eine ganz blöde Lücke in den Förder-Möglichkeiten. Wir sind jetzt gerade dabei zu werben, auch im Bundeswirtschaftsministerium, für einen Nothilfefond, der dann nicht nur Handelsunternehmen, sondern allen, die von den Schließungen betroffen waren, zugutekommt.
Wir haben ja nebenbei noch andere Ideen vorgeschlagen, wie wir unseren mittelständischen Mitgliedern hier helfen können. Wir denken zum Beispiel, ein weiterer Hebel sind die Mieten. Da haben wir in der Tat auch ein Problem. Jetzt machen die Länden langsam alle wieder auf, haben ihre Kosten fast wieder auf hundert Prozent, aber die Umsätze liegen bei zwanzig, dreißig Prozent im Vergleich zu vor der Krise. Das ist natürlich wirklich eine ganz bedrohliche Situation für viele unserer Händler.
Deutschlandfunk Kultur: Darüber, was man da vielleicht machen kann, wo man ansetzen kann, möchte ich gleich nochmal ausführlicher mit Ihnen reden. Ein Punkt, den ich zuvor noch ansprechen wollte: Wenn man die jetzige Situation ganz aktuell betrachtet, sind ein besonders großes Problem für den Handel Grenzschließungen, Grenzkontrollen, weil der Handel letztendlich in starkem Maße auf Grenzüberschreitendes und Grenznahes angewiesen ist. Jetzt gibt’s zwar etliche Erleichterungen. Trotzdem gibt es weiter Beschränkungen.
Sind wir aber nicht an dem Punkt genau wieder in diesem Spannungsfeld, dass gesundheitspolitisch geboten ist, was wirtschaftspolitisch schädlich ist? Denn dass Mobilität für die Pandemie Futter ist, dass sie sich damit besonders gut ausbreiten kann, das weiß man.
Gerstein: Aber ob Grenzschließung jetzt da das beste Mittel sind, das haben wir von Anfang an infrage gestellt, weil dem Virus Grenzen eigentlich ziemlich egal sind. Das war jetzt natürlich so ein Reflex, Grenzen hochziehen und dann kommt erstmal niemand mehr rein und niemand mehr raus, aber wir hätten uns ein Vorgehen gewünscht, was sich einfach am Infektionsgeschehen orientiert – ähnlich wie im Föderalismus. Deshalb habe ich auch vorhin gesagt: Man muss immer die beiden Seiten der Medaille sehen.
Dass zum Beispiel die Grenze zu Frankreich, also, Lothringen und Elsass waren absolute Hotspots, geschlossen wurde, das hatte sicherlich gesundheitspolitisch sehr triftige Gründe.

Manche Grenzschließung wäre nicht nötig gewesen

Deutschlandfunk Kultur: Auch dass sie zu Belgien nicht geschlossen wurde, obwohl es auch ein hohes Aufkommen an Infektionen gab?
Gerstein: Wobei, da ist zwar interessanterweise die Todesrate vergleichsweise recht hoch, aber die absoluten Infektionszahlen waren es gar nicht so. Aber zum Beispiel an der polnischen oder tschechischen Grenze wäre nach unserer Einschätzung das gar nicht unbedingt nötig gewesen. Da hatten wir auch tatsächlich ganz große Probleme, weil viele Grenzpendler nicht mehr gekommen sind, weil sie bei der Wiedereinreise nach Polen zwei Wochen in Quarantäne gemusst hätten.
Als dann klar war, wenn wir das so praktizieren, wie das in einem ersten Impuls passiert ist, dann bleiben die Supermarktregale irgendwann wirklich leer, wurden die sogenannten "Green Lanes" geschaffen – Schnellspuren an den Grenzübergängen, damit wenigstens der Warenverkehr weiter fließen konnte. Das Gleiche hat man dann auch schließlich für Grenzpendler gemacht.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben eben schon angesprochen, dass das Schlimmste für den Einzelhandel, zumindest den Nicht-Lebensmittel-Bereich, nicht vorbei ist. Da hat es ja enorme Verluste gegeben. Ich habe Zahlen gelesen von einer Milliarde pro Tag im Bereich des Nicht-Lebensmittel-Handels, die verloren gegangen ist. Warum ist das Schlimmste jetzt noch nicht vorbei? Die Leute dürfen wieder in die Läden. Und sie haben doch möglicherweise auch Nachholbedarf.
Gerstein: Vielleicht erst noch mal rückblickend, das muss man sich auch einfach mal vorstellen. Für uns als Handelsverband, der ja den Lebensmittelbereich wie auch den Non-Food-Bereich abdeckt, ist es ein gigantischer Spagat auch in unserer Adressierung an die Politik. Wir hatten eben zum einen quasi den systemrelevanten Sektor Lebensmittel-Einzelhandel, der vor nie gekannten Herausforderungen stand, etwa zu Beginn mit Hamsterkäufen, der Herausforderung, die Logistik und die Warenströme aufrecht zu erhalten in ganz Europa, und der Herausforderung, Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerausfälle zu kompensieren, weil viele zu Hause bleiben mussten wegen Kinderbetreuung et cetera pp.
Deutschlandfunk Kultur: Also, Sie haben Verlierer und Gewinner zusammenführen müssen.
Gerstein: Ja, wobei das mit den Gewinnern ist auch relativ. Aber jedenfalls musste der Lebensmitteleinzelhandel auch mit enormem Ressourcen- und Personalaufwand sich auf diese Situation einstellen, dann in einer zweiten Phase natürlich die Zurverfügungstellung der Hygienemaßnahmen und Bedingungen. Und auf der anderen Seite der Non-Food-Bereich, alles, was nicht Lebensmittel ist.

Bis zu 40 Milliarden Umsatzverluste

Deutschlandfunk Kultur: Die Mode war besonders stark betroffen.
Gerstein: Textil und Mode ganz extrem. Das war dann auch noch sozusagen schlechtes Timing – in dem Sinne, dass alle ihre Frühjahrskollektionen bestellt haben, da teilweise extrem in Vorlage gegangen sind und jetzt auf diesen Modeartikeln sitzen bleiben. Wir haben in der Tat im Non-Food-Bereich Umsatzverluste zwischen 800 Millionen und einer Milliarde Euro pro Tag. Also, wenn wir jetzt konservativ rechnen würden, übers Jahr gerechnet liegen wir dann womöglich bei vierzig Milliarden Euro Umsatzverlust. Das ist natürlich gigantisch.
Gleichzeitig mussten Mieten weiter bezahlt werden und alle laufenden Kosten. Das ist natürlich für viele unserer Nicht-Lebensmittel-Händler existenzbedrohend.
Deutschlandfunk Kultur: Deshalb hat Ihr Verbandspräsident Josef Sanktjohanser ja gefordert, dass es so etwas geben müsste wie einen branchenübergreifenden Hilfsfond für alle Unternehmen, die schließen mussten oder erhebliche Umsatzeinbußen haben.
Bösartig gesagt könnte man natürlich nachschießen: Was ist eigentlich mit der schönen unternehmerischen Risikobereitschaft und -fähigkeit geworden, wenn jetzt jede Branche herkommt und sagt, "unsere Verluste wollen wir ausgeglichen haben"?
Gerstein: Das ist ja eine Situation, wo quasi die ganze Geschäftsgrundlage für die Bereitschaft, Risiko zu übernehmen, weggebrochen ist. Das ist ja die besondere Situation. Jede Branche kommt an und will ihrs haben. Aber was uns, glaube ich, unterscheidet von manch anderem Selbstverständnis: Wir sind eine Branche, die an der Schnittstelle zum Endverbraucher tätig ist und wir sehen schon, dass wir Maßnahmen brauchen, die als Konjunkturspritze und Konsuminitialzündung für unsere gesamte Volkswirtschaft wirken.
Der Nothilfefond ist in der Tat ein Vorschlag. Da geht es eigentlich vor allem darum, dass zwar jetzt alle wieder öffnen dürfen, aber die Umsätze trotzdem nicht machen. Wir haben jetzt die Situation, dass die Läden wieder auf sind, sie sehen aber, dass die Umsätze teilweise bis zu achtzig Prozent unter dem Normalniveau liegen. Wenn das so bleibt, dann nutzen natürlich die Ladenöffnungen auch nichts. Dann sind wir nämlich in der Situation, dass die Unternehmer fast wieder auf hundert Prozent ihrer Kosten sind, aber überhaupt keine Einnahmen haben.
Deshalb haben wir gesagt: "Nothilfefond", um zumindest diejenigen, die wirklich in ihrer Existenz bedroht sind, bei den laufenden Kosten zu unterstützen. Der zweite Baustein, den wir vorgeschlagen haben, sind sogenannte "Corona-Schecks". Da ist unsere Überlegung, ein staatlich induzierter Konsumimpuls.
Deutschlandfunk Kultur: 500 Euro für jeden Einwohner.
Gerstein: Genau.

Konsum ankurbeln, Innenstädte am Leben halten

Deutschlandfunk Kultur: 500 Euro für jeden Einwohner – Alte, Kind, Baby. Das ist eine riesengroße Gießkanne. Die Frage ist, ob da nicht ein Modell, auch mit einer Art Konsumgutschein, wie die Grünen es vorschlagen, zielgenauer ist. Die wollen ein bisschen weniger Geld in die Hand nehmen – 250 Euro pro Person – aber dafür Gutscheine ausgeben, die dann nur für den stationären Handel, nicht den Online-Handel, oder für die Gastronomie gelten.
Gerstein: Also, der Grünen-Vorschlag ist uns natürlich bekannt. Das ist ein bisschen ein anderer Ansatz als unserer. Viele unserer Händler sind sowohl online als auch stationär unterwegs. Wir sehen eigentlich nicht, dass man das so trennen muss – online und stationär. Wir haben auch das Anliegen – und da haben wir mit den Grünen auch eine sehr große Schnittmenge –, dass wir sehen, wie wichtig es ist, dass wir die Innenstädte am Leben halten. Das sind Orte der Begegnung und des sozialen Miteinanders. Da wünschen wir uns auch, dass wir da wieder hinkommen, dass das so geschieht.
Wir sehen aber nicht, dass man schon von Vornherein, wenn man den Konsum insgesamt ankurbeln möchte, dass man das so eingrenzen kann, dass das nur ganz bestimmten Gruppen zugutekommen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sind natürlich auch als HDE in einer ganz schwierigen Lage. Denn zu Ihren Mitgliedern zählt genauso Amazon, die die Gewinner dieser jetzigen Lage sind, und der kleine Buchhändler an der nächsten Einkaufsstraße, der an der Existenz knappst. Sie müssen es ja irgendwie beiden rechtmachen.
Gerstein: Genau. Aber auch der kleine Buchhändler verkauft vielleicht einen Teil seiner Bücher online. Viele andere mittelständische Händler haben ihre Ware während der Schließung über die Plattform Amazon verkauft. Deshalb macht für uns diese Trennung zwischen stationär und online irgendwie keinen Sinn, weil diese Online-Plattformen auch für die stationären Händler ganz wichtige Absatzkanäle sind.
Wir haben uns natürlich auch sehr, sehr viele Gedanken gemacht, wie man so etwas gestalten kann. Die Corona-Schecks, die wir vorschlagen, sind ja breit angelegt. Wir wissen auch, dass die mit Sicherheit nicht zu hundert Prozent dem Einzelhandel zugutekommen werden. Da wird einiges auf Sparkonten landen. Da wird einiges vielleicht der Reiseindustrie zugutekommen und selbstverständlich dem Hotel- und Gaststättengewerbe. Aber in unserer Überlegung war es halt, dass uns als Branche letztlich am meisten geholfen ist, wenn wir insgesamt einen Konsumimpuls wiederbekommen.

Konsumimpuls besser als Steuersenkungen

Deutschlandfunk Kultur: Und dafür müsste der Staat vierzig Milliarden in die Hand nehmen. Das käme noch oben drauf zu dem dreistelligen Milliardenbetrag, den wir bereits investieren müssen, um andere Folgen der Krise zu überwinden. Und die müssen Sie und ich dann als Steuerzahler anschließend wieder berappen.
Gerstein: Richtig. Aber auch das haben wir uns natürlich intern gut überlegt. Ich meine, wenn man einen Konsumimpuls geben will, hat man im Prinzip zwei Möglichkeiten. Entweder es fließt Geld in Richtung auf der Ausgabenseite. Das wären jetzt unsere Corona-Schecks. Oder man dreht an der Steuerschraube und nimmt Steuersenkungen vor.
Deutschlandfunk Kultur: Steuersenkungen?
Gerstein: Wir haben uns bewusst gegen Steuersenkungen als Forderung entschieden, weil wir natürlich sehen, irgendwoher muss das Geld ja kommen, was man ausgibt. Deshalb denken wir eben: Okay, da müssen wir eben bei der Ausgabenseite ansetzen, damit überhaupt unsere Konjunktur dann wieder in Schwung kommt.
Aber selbstverständlich könnte man dann nicht gleichzeitig auch noch Steuersenkungen fordern. Das geht in der Tat nicht zusammen. Dass die Staatsausgaben jetzt natürlich enorm sind, ist völlig richtig.
Deutschlandfunk Kultur: Und die Einnahmen sinken, Steuerschätzungen sagen es diese Woche, um rund hundert Milliarden Euro.
Gerstein: Aber wir müssen natürlich auch sehen, dass wir unsere Wirtschaft wieder angekurbelt kriegen. Ich meine, die Idee hinter den Corona-Schecks ist ja auch nicht, dass das dann wieder verpufft, sondern dass davon natürlich auch die dahinter liegenden Wertschöpfungsketten profitieren können. Wir setzen da eigentlich auf Initialzündungen.

Gleichstellungspolitischer Rückschritt in der Krise?

Deutschlandfunk Kultur: Die Grünen befürchten, dass durch die Situation der letzten Wochen es in der Krise zu einem großen gleichstellungspolitischen Rückschritt kommt. In der Tat ist es ja oft so, dass sich berufstätige Mütter sehr viel mehr plötzlich wieder mit der Privatangelegenheit Kinderbetreuung beschäftigt sahen, als berufstätige Männer. Ist das so eine Art Rückschritt, den wir da erleben?
Gerstein: Die Gefahr besteht mit Sicherheit. Sicherlich einer der nicht intendierten Nebeneffekte, den wir jetzt auch angehen müssen. Wir haben schon aus unserer Mitgliedschaft von zwei Unternehmen gehört, von zwei großen Unternehmen, die das innerhalb ihrer Belegschaft auch zu spüren bekommen haben, dass die Frauen da wirklich einseitig sehr viel mehr Last tragen, und das auch schon unternehmensintern entsprechend beantworten wollen, mit zusätzlichen Angeboten für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Aber das betrifft natürlich jetzt den Handel spezifisch nicht alleine, wobei bei uns natürlich auch sehr viele weibliche Beschäftigte sind.
Deutschlandfunk Kultur: Die im Zweifel sehr viel weniger verdienen als ihre Männer, und dann ganz klar ist: "Wenn einer seinen Job hier riskiert, um die Kinder zu betreuen, bist du das, Schatz."
Gerstein: Ja, das kann man nicht abstreiten. Das ist wahrscheinlich so. Das ist dann natürlich auch wieder eine breite gesellschaftliche Debatte, die auch die Unternehmen nicht alleine stemmen können. Das muss man dann schon als Regierung offensiv adressieren. Ich wünsche mir überhaupt nicht, dass wir da jetzt so einen Backlash erleben. Da müssen alle Akteure – Unternehmen genauso wie Regierung und Sozialpartner – dagegen arbeiten.
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