Einwanderungspolitik

Frankreich zögert

Flüchtlinge stehen, sitzen und liegen vor dem Verwaltungsgebäude des 18. Arondissements in Paris.
Flüchtlinge stehen, sitzen und liegen vor dem Verwaltungsgebäude des 18. Arondissements in Paris. © Deutschlandfunk / Ursula Welter
Von Ursula Welter · 12.11.2015
Frankreich nimmt weit weniger Flüchtlinge auf als Deutschland. Doch nicht allein die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Wirtschaftslage sind die Gründe dafür, dass die Bevölkerung zurückhaltend bis ablehnend auf die hohe Zuwanderung reagiert.
"Natürlich gibt es, wie in anderen europäischen Ländern auch, Mitgefühl, wird Solidarität für die Flüchtlinge zum Ausdruck gebracht, auch hier gab es das, was wir einen 'Aylan-Effekt' nennen. Mit dem Foto des kleinen Jungen am türkischen Strand stieg die Bereitschaft der französischen Bevölkerung, Flüchtlinge aufzunehmen, stark an."
Jerôme Fourquet sitzt in der sechsten Etage des Instituts ifop, dem französischen Pionier-Unternehmen für Meinungsforschung. Seit mehr als einem Jahrzehnt fühlt er den Puls der Franzosen.
"Trotz der starken Gefühlsregungen sehen wir aber heute, dass die Hälfte der Franzosen, mit 52 - 54 Prozent, sogar etwas mehr, gegen eine Aufteilung der Flüchtlinge auf die verschiedenen Länder in Europa ist und dagegen, dass Frankreich einen Teil davon aufnimmt."
Fourquet sitzt mit dem Rücken zur Fensterscheibe, der Blick geht von hier aus weit über die nördlichen Vororte von Paris, die sensiblen Banlieues.
"Wir sind sehr viel weniger geneigt, Flüchtlinge aufzunehmen, als die deutsche Bevölkerung."

Mehrheit gegen massenhafte Zuwanderung

Nicht Inhumanität, nicht Ignoranz stecke dahinter, wie Frankreich teils pauschal vorgeworfen wird. Vielmehr eine Mischung aus unterschiedlichen Gründen. Da ist die schlechte Wirtschaftslage, die hohe Arbeitslosigkeit, die hohe Verschuldung, das Gefühl, dass das Land nicht die Kapazitäten, nicht die Mittel hat, Flüchtlinge aufzunehmen.
"Aber das ist bei weitem nicht der einzige Grund. Die Flüchtlingsfrage berührt viele sensible Saiten, die seit sehr langer Zeit sensibel sind und auf denen der Front National kräftig spielt.
Viele Franzosen sind der Meinung, und da geht es nicht mehr um ökonomische Fragen wie Schulen, Unterkünfte und Dinge, über die man bei Ihnen in Deutschland diskutiert, viele Franzosen glauben , dass Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten bereits enorm viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Vor allem aus maghrebinischen und muslimischen Staaten, und dass das französische Einwanderungsmodell nicht mehr funktioniert."
Frankreichs Einwanderungstradition reicht ins 19. Jahrhundert zurück, die Kolonialgeschichte tat ihr Übriges. Für die Mehrzahl der Franzosen habe es Priorität, die Menschen zu integrieren, die bereits im Land seien, die Einwanderer, deren Kinder und Kindeskinder.
"Und da gibt es einen Zusammenhang mit den Ereignissen vom Januar, den Attentaten."
Die französischen Reaktionen auf die jüngste Flüchtlingskrise müssten in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Die Attentate vom Januar wirken nach

"Die, die die Attentate begangen haben, waren Franzosen, sie sind zur Schule der Republik gegangen. Dann, wenige Tage später, die zweite Ohrfeige für die französische Gesellschaft, als klar wurde, wie schwerwiegend die Probleme sind, mit denen wir konfrontiert sind: Als die Schweigeminute für die Opfer in manchen Schulen gezielt gestört wurde. Wir haben also einmal die Attentate, dann die Rolle des Islam in der französischen Gesellschaft und die Verbindung nach Syrien."
Denn die Bevölkerung höre regelmäßig aus dem Innenministerium, dass sich mehr als tausend junge Franzosen dem Dschihad in Syrien angeschlossen haben.
"Wir haben vor wenigen Tagen erfahren, dass einer der Attentäter, der den Supermarkt für jüdische Lebensmittel überfallen und Menschen getötet hat, Coulibaly, dass der per SMS Order aus Syrien erhalten hat. Und da sagt die Bevölkerung: Voilà , da ist eine weitere Verbindung zum Flüchtlingsstrom aus Syrien und die Sache ist außer Kontrolle."
Angesichts dieser Stimmung in Frankreich, das lange stolz auf sein Staatsangehörigkeitsrecht war, handele Staatspräsident Hollande entsprechend vorsichtig. Zumal der rechtsextreme "Front National" die Migrationsdebatte seit Jahren anheize.
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