Einstein und die Schweiz

Rezensiert von Johannes Kaiser · 01.08.2005
Der Geschichtswissenschaftler Alexis Schwarzenbach berichtet in "Das verschmähte Genie" über die merkwürdige Liebe Einsteins zur Schweiz. Das Buch entdeckt so manche unbekannte Facette des Nobelpreisträgers, der immerhin als Patentsbeamter in Bern vor 100 Jahren seine berühmte Relativitätstheorie abschloss.
Geboren in Ulm, aufgewachsen in München missfiel dem jungen Einstein schon recht bald nach seiner Einschulung in das dortige Luitpold-Gymnasium der autoritär-militärische Ausbildungsstil und - typisch für ihn - nahm der 16-Jährige die Pleite der väterlichen Firma und den darauf folgenden Umzug nach Italien zum Anlass, die Schule schon ein halbes Jahr später zu verlassen, um nie mehr an sie zurückzukehren. Stattdessen ging er mit elterlichem Einverständnis in die Schweiz, um dort sein Abitur abzulegen. In Aarau, einer Kleinstadt 50 Kilometer westlich von Zürich gelegen, besuchte er die Kantonsschule, ein Hort der Aufklärung und des liberalen Zeitgeistes - das genaue Gegenteil der klein-geistig-autoritätsfixierten deutschen Schule. Albert Einstein wohnte bei einem der Schullehrer, Jost Winteler, seines Zeichens ebenfalls ein unabhängiger Denker, der sich viel mit dem jungen Albert über Philosophie und Politik unterhielt.

"Papa Winteler (wurde) zu seinem wichtigsten Mentor, den Einstein zeitlebens in bester Erinnerung behalten sollte... Josef Winteler war bei Generationen von Schweizer Gymnasiasten sehr beliebt, weil er ihnen nicht nur Vokabeln und Fakten beibrachte, sondern sie auch zu selbstständigem und verantwortungsvollem Denken animierte. Kritisches Betrachten vorgefasster Meinungen war Winteler besonders wichtig... An Wintelers Deutschlandkritik beeindruckte Einstein vor allem die Warnung vor dem aggressiven, expansiven Nationalismus."

Biograph Schwarzenbach sieht hier die Ursprünge von Einsteins lebenslangem politischen Engagement und seines tief empfundenen Demokratieverständnisses, das ihn immer wieder anecken ließ und so manchen Konflikt auslöste. Wintelers Kritik an Deutschland mag auch erklären, warum der Physiker die deutsche Staatsbürgerschaft, die unweigerlich mit dem Antritt einer Professor an der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin verbunden war, nur widerwillig akzeptierte und einer der ersten war, die 1933 sofort begriffen, was mit der Machtergreifung Hitlers bevorstand. Er gab seinen deutschen Pass ausdrücklich als Protest gegen die Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender zurück. Das fiel ihm natürlich relativ leicht, besaß er doch noch zusätzlich die Schweizer Staatsbürgerschaft.

Die, relativ leicht 1901 erworben, hat ihn nach Ansicht seines Biographen auch davon abgehalten, seine unehelich geborene Tochter anzuerkennen, denn seine erste große Liebe Mileva wurde schwanger, bevor sie heirateten und Einstein ein Eidgenosse wurde. Vor der komplizierten Anerkennungsprozedur schreckte er zurück. Das Kind blieb bei den Großeltern in Novi Sad. Einstein bekam seine Tochter nie zu Gesicht, und er hat sich offenkundig auch nie danach gedrängt, sie vielmehr komplett aus seinem Bewusstsein verdrängt. Er war überhaupt ein ziemlich miserabler Vater, wie die Biographie nicht zuletzt anhand seines Umgangs mit diesen beiden Söhnen nach der Scheidung aufweist. Als der jüngere der beiden geisteskrank wurde, suchte er sämtliche Verpflichtungen auf andere abzuwälzen, hielt sich bedeckt und fern. Ausgesprochen kleingeistig, geizig und besserwisserisch verhielt er sich gegenüber seiner ersten Frau – es ist geradezu unangenehm nachzulesen, mit welcher Verachtung er die einstmals Geliebte und ihm geistig durchaus ebenbürtige Frau behandelte.

Aus einem Brief 1923: "Ich möchte noch eine geschiedene Frau sehen, der man alles opfert und die sich so schlecht dabei benimmt."

Der stete Streit ums Geld hat Einstein nach Ansicht Schwarzenbachs nach dem Krieg die Rückkehr in die Schweiz vergällt und sein Schweizbild weiter getrübt. Seine frühere schwärmerische Begeisterung hatte bereits 1933 einen massiven Dämpfer bekommen, als Albert Einsteins nicht unbeträchtliches Vermögen in Höhe von rund 30 000 Mark in Deutschland gesperrt wurde. Er wandte sich daraufhin an den Schweizer Botschafter in Brüssel mit der Bitte, für ihn als Schweizer Bürger bei der Preußischen Regierung zu intervenieren und die Freigabe des Geldes zu verlangen. Wie die Schweizer Behörden darauf reagierten, ist mehr als blamabel. Ewigkeiten diskutierte man intern, ob der Nobelpreisträger nicht bloß ein Papierschweizer sei, überhaupt als Eidgenosse gelten dürfe. Bern argumentierte:

"Es kommt hinzu, dass die Maßnahmen, denen er sich gegenwärtig in Deutschland ausgesetzt sieht, von den deutschen Behörden gerade in Hinblick auf seine Reichszugehörigkeit und angeblicher Verletzung seiner staatsbürgerlichen Pflichten getroffen worden sind. Nur drei Monate nach Hitlers Machtergreifung fiel das schweizerische Außenministerium also nicht nur auf die pseudolegalistischen Argumente der Nazis herein, womit diese ihre gegen jedes internationale Recht verstoßenden Aktionen gegen Oppositionelle wie Einstein begründeten. Vielmehr schreckte man in Bern auch nicht davor zurück, die verlogene Argumentation der Nazis kritiklos zu übernehmen."

Zu Recht heißt die Biographie "Das verschmähte Genie". Die Schweiz erwies sich einem ihrer prominentesten Bürger gegenüber als kleingeistig, hochmütig und gewissenlos – eine Haltung, die bis in die Neuzeit hinüberreicht. Während nach Einsteins Tod allerorten Staatsoberhäupter das Genie rühmten, schwiegen in der Schweiz Bundesrat und Kantonsregierungen. Auch in den folgenden Jahren, als man anderenorts seiner feierlich gedachte, überging man ihn in der Schweiz an den Orten seines Wirkens, so als schäme man sich seiner. Erst jetzt zum 50. Todestag besinnt sich auch die offizielle Schweiz allmählich des ungewöhnlichen Genies.

Souverän und detaillreich, unvoreingenommen und unerschrocken erhellt Alexis Schwarzenbach die Schweizer Jahre Albert Einsteins. Er beschönigt nichts und erklärt doch verständlich die zwiespältige Zuneigung des Physikers zur Schweiz, wie sie ihn geprägt und geschmäht hat. Solche Biographien haben Seltenheitswert.

Alexis Schwarzenbach: Das verschmähte Genie, DVA München 2005, 215 Seiten.