Einsamkeit in der Pandemie

Ein schlimmes Gefühl – und was dagegen hilft

08:20 Minuten
Eine Illustration zeigt einen Mann allein an einem gedeckten Tisch bei Kerzenschein.
Kein Mensch ruft mich an: Psychologinnen und Zukunftsforscher warnen, die Pandemie drohe zu einer "Epidemie der Einsamkeit" zu werden. © imago / fStopImages / Malte Mueller
Von Alexandra Gerlach · 06.04.2021
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Abstand halten, Kontakte beschränken, so lauten zwei Ratschläge, um Corona einzudämmen. Doch es gibt Nebenwirkungen - Einsamkeit etwa. Jugendliche und alte Menschen sind von ihr besonders betroffen.
Das Phänomen Einsamkeit hat viele Gesichter. Es erfasst vor allem Ältere, aber neuerdings seien verstärkt auch junge Menschen davon betroffen, sagt die Dresdner Psychotherapeutin Astrid von Friesen: "Das ist ja ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts. Es wird schon von der Volksseuche Nummer eins gesprochen, und in England gibt es ja bereits ein Ministerium gegen die Einsamkeit."

"Ach, meine Kinder sind weit weg"

"Bei älteren Menschen, die ich besuche, spielt das Thema Einsamkeit häufig eine Rolle", sagt die Seelsorgerin Marianne Feydt aus Leipzig. Das sei auch schon vor Corona so gewesen: "Ich erlebe immer wieder die Aussage von älteren Menschen: 'Ach, meine Kinder sind weit weg'."
"Ich kenne einige fröhliche, aufgeschlossene Jugendliche", erzählt Manfred Wilde, Oberbürgermeister im nordsächsischen Delitzsch, "Jugendliche, die in öffentlichen Kulturveranstaltungen mit aufgetreten sind, die sportlich aktiv waren - und die jetzt wirklich verkümmern wie so ein Pflänzlein ohne Wasser, die zu Hause sitzen. Das sind ja prägende Elemente, die Sie irgendwann in den nächsten zwei, drei, vier Jahren auch nicht ausräumen können."
Auch schon vor der Corona-Pandemie war die Vereinsamung in unserer Wohlstandsgesellschaft ein Problem. Das habe sich in Zeiten von Corona deutlich gesteigert und gehe an die Grundfesten des menschlichen Daseins, wie Astrid von Friesen erläutert:
"Wir wissen, dass einsame Menschen einen erhöhten Puls haben, erhöhten Blutdruck, dass die Herzinfarktrate um 30 Prozent steigt, wenn man sich einsam fühlt - einfach, weil wir Menschen nicht für die Einsamkeit geboren worden sind. Wir sind ja eigentlich noch sehr archaische Wesen."

Jugendliche und Alte einsam

Astrid von Friesen hat früher in Hamburg gelebt und dort unter anderem 15 Jahre lang in der Telefonseelsorge gearbeitet. Schon damals sei Einsamkeit bei gleich zwei Altersklassen eines der Hauptthemen in den anonymen Telefonaten gewesen, erinnert sie sich:
"Die zwei größten Gruppen, die unter Einsamkeit leiden, sind Jugendliche und alte Menschen. Und in beiden Altersgruppen ist auch die Suizidalität am höchsten. Jeder zweite Tod bei Jugendlichen basiert auf einem Suizid."
Die Hamburger Telefonseelsorge hat in der ersten Phase der Pandemie zwischen Mitte März und Mitte Mai 2020 rund ein Drittel mehr Anrufe bekommen als sonst. Viele dieser Anrufe seien Ausdruck tiefer Einsamkeit, ist in einer Ausgabe der Ärztezeitung zu lesen. Es ist der Trend, den die bundesweit rund 100 Telefonseelsorge-Stellen, die von den beiden großen Kirchen getragen werden, verzeichnen.

Landeinsamkeit statt Landlust

Der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski warnt in diesem Zusammenhang vor einer dramatischen Zunahme der Einsamkeit: Die Pandemie drohe zur "Epidemie der Einsamkeit" zu werden, lautet seine Prognose. Die Sorge vor Vereinsamung sei inzwischen fast so verbreitet wie die Sorge vor Altersarmut, so der Forscher.
Hinzu kommt, dass sich das Phänomen Einsamkeit inzwischen vor allem auf dem Land verbreitet, wie Astrid von Friesen erklärt: "Die Großfamilien gab es ja bis in die 1960er-Jahre auf dem Land sehr viel stärker noch. Aber das hat sich auch geändert, weil viele junge Leute, gerade hier auch in Ostdeutschland, ihre Dörfer, ihre Kleinstädte verlassen haben, um irgendwo Arbeit zu suchen. Von daher ist diese Einsamkeit jetzt auch ein ländliches Phänomen."
In der Pandemie kommt ein weiteres Hemmnis erschwerend hinzu. Angehörige durften über lange Zeit hinweg ihre Eltern und Großeltern in Pflegeheimen sowie erkrankte Verwandte in den Krankenhäusern nicht besuchen.

Corona als Einsamkeitsverstärker

Eine schwierige Situation auch für das Pflegepersonal auf den Stationen, wie Krankenschwester Claudia Heinze aus Leipzig erzählt. Seit 28 Jahren arbeitet sie auf der Intensivstation des katholischen St. Elisabeth-Krankenhauses. In den zurückliegenden Monaten habe sie eine neue, besondere Form der Einsamkeit in ihrer Arbeit erlebt, sagt sie:
"Ich stehe hier an Betten von Eltern, deren Kinder nicht kommen können. Jetzt geht es ja, aber damals durfte ja gar niemand kommen. Und die müssen mir vertrauen, dass ich mich um ihre Mutti kümmere und das gut mache. Das ist ein Vertrauensvorschuss, dem man manchmal auch nicht gerecht wird."
In einer Umfrage des Forsa-Instituts vom Mai 2020 gaben 80 Prozent der Befragten an, dass sie der fehlende Kontakt zu Familie und Freunden besonders belaste. Gewohnte Strukturen und Kontaktmöglichkeiten fallen seit Monaten weg. Das hat Folgen, sagt Marianne Feydt, sie ist Seelsorgerin im St. Elisabeth-Krankenhaus:
"Selbst organisierte Kontakte – ob das die Nachbarschaft ist, ob das die Gemeinde ist, der Seniorenkreis in der Gemeinde, oder ob das Angebote der AWO sind, wie auch immer gestaltete Seniorenhilfen, alles darf gerade nicht sein. Das heißt, selbst die, die gut mit dem Alleinsein umgehen konnten, spüren jetzt, dass Alleinsein etwas anderes ist, als einsam zu sein - und das wird mehr."

Einsamkeit aus Mangel an Strukturen

Der Verlust von Kontakten und dem Zugang zu verschiedenen gesellschaftlichen Netzwerken ist jedoch nicht allein im Zusammenhang mit der Coronapandemie zu sehen. Vielfach seien die Strukturen schon früher weggebrochen, konstatiert der Oberbürgermeister von Delitzsch, Manfred Wilde. Auch in seiner Stadt sei diese Erosion schon länger deutlich spürbar, erklärt Wilde:
"Früher bestehende Netzwerke in den Kirchengemeinden, in der Volkssolidarität, in der Arbeiterwohlfahrt, eine Kaffeerunde oder, ich sage mal bewusst in Anführungsstrichen, ein 'Damenkränzchen', die gibt es ja nicht mehr."
Von der Einrichtung eines "Bundesbeauftragten gegen Einsamkeit", wie von der Unionsfraktion im Bundestag angedacht, hält der studierte Medizinhistoriker Wilde jedoch nichts: "Na ja, das sind so hilflose politische Instrumente. Für mich ist das wenig zielführend", sagt er. "Da bin ich wieder beim Thema Kommune", fügt der von der DDR-Bürgerrechtsbewegung geprägte Politiker hinzu:
"Die Bürger leben in Kommunen, so etwas muss an der Basis passieren. Dieser Bundesbeauftragte, da werden Forschungsprojekte finanziert, da werden zwei, drei Psychologen mit ins Boot geholt – am Ende bleibt da nicht mehr als ein 500-Seiten-Papier, das im Grunde von niemandem gelesen wird. Ich halte es für sinnvoller, diese Unterstützungsprojekte vor Ort ankommen zu lassen."

Aktiv gegen den Teufelskreis der Einsamkeit

Die Leipziger Theologin und Seelsorgerin Marianne Feydt hingegen findet die Initiative, einen Bundesbeauftragten gegen Einsamkeit einzurichten, gar nicht schlecht. Dieser könne wichtige Impulse geben, sagt sie. Zugleich appelliert sie an die Gesellschaft:
"Ich glaube, wir müssten so etwas wie Nachbarschaftshilfe wieder entwickeln. Ich selber bin im Münsterland groß geworden, wir hatten eine gut funktionierende Nachbarschaft. Da kannte jeder jeden. Jeder Haushalt hatte zwei so genannte 'nächste Nachbarn', die kümmerten sich. Das war ein System von Sicherheit und Aufgehobensein. Das galt nicht nur für mich als Kind, das galt auch für die Alten in unserer Nachbarschaft."
Als Therapeutin rät Astrid von Friesen derweil Menschen, die sich einsam fühlen, selbst aktiv zu werden, um den Teufelskreis zu durchbrechen:
"Wenn ich heute einem anderen Menschen, einer entfernte Nachbarin oder einem Freund eine Nachricht schicke, vielleicht anrufe – das erfreut auch mich. Ich nehme ihm die Einsamkeit ein Stück, ich sage ihm: Du bist mir wertvoll und wichtig, ich möchte mal wieder mit Dir telefonieren. Ich kann aktiv etwas tun gegen Einsamkeit und erfreue zwei Menschen, nämlich den anderen und mich."
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