Einladung zum Mitdenken

14.11.2008
Wilhelm Genazino ist seit dem Büchner-Preis 2004 kein Geheimtipp mehr. Als Essayisten kann man ihn nun in einem Hörbuch kennenlernen: "Der gedehnte Blick", beschäftigt sich mit Themen wie dem Scheitern und dem Komischen - und vor allem mit der Kunst der minuziösen Wahrnehmung.
"Literatur ist der Versuch, mit einem Schmerz zu sprechen. Große Schriftsteller wissen, was der in ihnen hausende Schmerz sagt, und sie wissen gleichzeitig, dass die Rede des Schmerzes eine Konstruktion ist. Aber sie suchen die Sprechstunde des Schmerzes immer wieder auf, weil sie natürlich bemerken, dass sich zwischen dem Schmerz und dem Text über ihn eine Art Ruf-Echo-Verhältnis herausbildet."

Der Essayband "Der gedehnte Blick" bietet delikate Werkstattberichte. Und wie man hört, hegt Wilhelm Genazino bei allem Augenzwinkern eine tendenziell märtyrerhafte Auffassung seiner Profession. Der Autor begebe sich wieder und wieder in die "Sprechstunde des Schmerzes" – nur, um am großen "Misslingen" fortzuschreiben.

Durchaus nicht misslungen ist bei diesem Hörbuch die Wahl des Sprechers. Sylvester Groth gehört zu den besten, eindringlichsten Stimmen, wenn es um die Darbietung reflektierender Prosa, um den akustischen Nachvollzug von Gedankengängen geht.
Etwa über das Scheitern an und für sich. Autoren seien "Vorturner des Scheiterns", und diese Virtuosität ermögliche es anderen Menschen, über ihr "stumm gebliebenes" Misslingen nachzusinnen und sich ein wenig von ihrem Geschick zu distanzieren:

"War das Scheitern des Menschen nicht schon immer das Thema aller Künste? Von Samuel Beckett stammt der einflussreiche Satz: "Künstler sein heißt Scheitern, wie kein anderer zu scheitern wagt." Der Satz dringt insofern zum Kern des Problems vor, weil der Künstler oft sein ganzes Leben lang die Nähe zum scheiternden Existieren aushält. Anders gesagt: Der Künstler kann mit Scheitern nicht aufhören. Wäre der Künstler ein normaler Mensch, könnten wir ihm sagen: Hör jetzt bitte auf zu schreiben, vier Romane von dir sind genug! Aber der Künstler ist kein gewöhnlicher (lernfähiger) Mensch, sondern ein schwer erziehbarer Narziss, der seine Sturheit für seinen besten Berater hält."

Das lange Titelstück "Der gedehnte Blick" will selbst ein Exerzitium im gedehntesten Schauen sein. Gegenstand ist ein Porträtfoto, wohl hundert Jahre alt. Das Fotografiertwerden im Atelier war damals eine außergewöhnliche, ernste Sache, fern vom spontanen Spaß heutiger Digitalschnappschüsse, und so darf man bezweifeln, dass die beiden abgebildeten Kinder, ein Junge mit Ziehharmonika und ein Mädchen mit Puppe, seinerzeit so lustig wirken sollten, wie Genazino behauptet - um dann festzustellen, dass das Foto einen Fall von "bestürzender Kindermelancholie" zeige und in seiner Lustigkeitsbemühung total gescheitert sei. Es wirkt so, als wollte Genazino hier um jeden Preis eine Reflexion aus dem beschädigten Leben durchführen. Für den Hörer sind die gedehnten Spekulationen dieses Textes noch schwerer nachzuvollziehen als für den Leser des zur Büchnerpreisverleihung vor vier Jahren erschienenen Bandes.
Bisweilen versucht sich Genazino im Essayismus à la Musil. Dabei vermisst man allerdings eine Ironie anderen Kalibers – etwa in seiner Betrachtung über den Siegeszug des Plastikstuhls in den Touristenmeilen dieser Welt:

"Vermutlich hängt es mit der Allgegenwart des Plastikstuhls zusammen, dass es vielen Menschen schwerfällt, persönliche Erinnerungen von ihren Reisen nach Hause zu bringen. Kein Wunder! Sie saßen ja auch überall auf den gleichen Stühlen! Es hat keinen Sinn, auf der Piazza San Marco den Campanile anzustaunen, wenn man dabei auf dem immer gleichen Plastikstuhl sitzen muss. Denn plötzlich werden wir von der Empfindung geplagt, dass wir vielleicht nie in Venedig angekommen sind, sondern nach wie vor in unserem heimischen Straßen-Café sitzen ..."

Ergiebiger ist es, wenn Genazino mit gedehntem Blick menschliche "Typen" der Vorstadt beobachtet oder in den fünf Zeilen einer Tagebucheintragung Kafkas gleich "sechs mehr oder weniger auffällige Schwindeleien" entdeckt.
Oder wenn er sich Gedanken über das Komische macht. Wenig sympathisch ist ihm dabei der Ansatz Henri Bergsons - das Lachen als soziales Korrektiv und Disziplinierungsmittel, als Abstrafung des regelverletzenden Außenseiters durch kollektives Gelächter. Dem externen Belustigungsgeschehen solch normierenden Humors stellt Genazino die "komische Empfindung" als Mittel der inneren "Souveränisierung" gegenüber. Dabei gilt: Menschen pflegen über das zu lachen, was sie früher einmal ernst genommen haben, über das "vergangene Vergebliche":

"Die komische Empfindung entsteht, wenn wir ausdrücken wollen, dass sich etwas, worin wir einmal Sinn vermutet haben, als nicht sinnvoll erwiesen hat. Die komische Kompetenz fungiert also als Distanzierung, als Kommentar und mithin als Deutungsbewegung, die uns – und zwar nur vor uns selber – erlaubt, eine Revision zu bekunden."

Die komische Empfindung sei eine subtile Einzelleistung, die sich deshalb auch kaum vermitteln lasse. Humor dagegen finde in einer sanktionierten Lachsituation statt – etwa bei der Performance eines Kabarettisten.
Das sind Ausführungen, die zum Mit-Denken anregen. Auch wenn sich die Rolle des Lesers oder Hörbuch-Hörers danach nicht leicht bestimmen lässt: Ist er nun Teil eines amüsierten Publikums oder eher ein vereinzelt schmunzelnder Genießer des Komischen? Mehr als einen Hörer hätte Genazino allerdings doch verdient.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Wilhelm Genazino: Der gedehnte Blick. Essays (Hörbuch)
Sprecher: Sylvester Groth
Hoffmann und Campe 2008
2 CDs, 22,95 Euro