Eingekreiste Weltmacht

Rezensiert von Klaus Kuntze · 10.11.2006
Die Existenz des russischen Imperiums ist bedroht - das zumindest behauptet der bekannte Journalist Peter Scholl-Latour in seinem Buch "Rußland im Zangengriff". Umringt von Nato, China und Islamismus befindet sich Putins Reich in der Defensive. Belastbare Belege für seine These liefert Scholl-Latour jedoch nicht.
Das markante Gesicht des indessen 81-Jährigen ist vom Fernseher bestens vertraut. Das ist doch der …? Richtig! Auf dem Buchumschlag wird neben der dominierenden Aufnahme auch der Name des Autors noch optisch unterstrichen: Peter Scholl-Latour. Einem Ahnungslosen erläutert der Verlag, dass seine TV-Sendungen über Brennpunkte des Weltgeschehens höchste Einschaltquoten und Anerkennung fänden. Eigentlich verbietet sich ja nun eine kritische Lektüre.

"Rußland im Zangengriff, Putins Imperium zwischen NATO, China und Islam." Der interessante Buchtitel muss noch einmal genannt werden, weil zu erwarten ist, dass Scholl-Latours 400-Seiten-Text ihn einlösen wird. Mit dieser Messlatte folgt man dem Autor anfangs in ein lesenswertes Anti-Nato-Plädoyer, aufgehängt an einer Reise nach Maza-e-Scharif, dem zentralen deutschen Stützpunkt in Afghanistan.

"Was haben Afghanistan und die Präsenz deutscher Truppen am Hindukusch mit der Einkreisung Russlands zu tun, der dieses Buch gewidmet ist? Meine Erkundungsreisen zwischen Minsk und Peking habe ich in den Monaten Juli und August 2006 ... durch diese Bestandsaufnahme in Afghanistan ergänzt. In Kabul steht die ratlose Atlantische Allianz vor einem Gordischen Knoten, und es ist kein Alexander in Sicht, der ihn mit dem Schwerte durchschlüge....
Alle Elemente, denen sich dies Buch widmen will, sind hier also vereint: das schwierige Nebeneinander von NATO und Russland, die geheimnisvolle Nähe der neuen Weltmacht China, vor allem die Unwägbarkeiten der islamischen Revolution, der der amerikanische Präsident neuerdings das Etikett ‚islamischer Faschismus’ anheftet und sie zusätzlich radikalisiert."

Hinter die "Unwägbarkeiten" das "schwierige Nebeneinander" und die "geheimnisvolle Nähe" gehören einstweilen nur ein paar bescheidene Fragezeichen. Denn das kann sie ja noch nicht sein, die Einkreisung Russlands oder der Zangengriff um "Putins Imperium". Das sieht bisher eher nach bewusst falscher Fährte aus, bevor das eigentliche Stück einen dann überraschen wird. Nach der NATO in Afghanistan folgt denn auch - zumindest geografisch - mit Weißrussland ein Kapitel, was größere Nähe zum Thema verspricht.

"Der graue Himmel lastet schwer über dem platten Land von Belarus. Die leeren Sowchosen-Felder sind mit einer dünnen weißen Schicht überzogen."

Da ist dem Buchautor offenbar der Kameramann abhanden gekommen, und er will sagen: es schneit. Ich verrate das jetzt einfach vorher, denn noch liegen 379 Seiten vor uns.

Nach Weißrussland, begründet Scholl-Latour, sei er gereist, um zu sehen wie es dort stehe. Das Land finde sich nämlich auf der Liste von Schurkenstaaten, die George W. Bush aufgestellt habe, der amerikanische Präsident. Damit macht Scholl-Latour zwar klar, wen er herausfordert, aber zugleich deutet sich leider an, welche Seite dann ihm, dem Autor, nur bleibt, um eventuell seine Punkte gegen Bush zu sammeln.

Wenn wir Scholl-Latour folgen, dann hat Lukaschenko leider die besseren Karten: kein Hunger, kein Elend, Renten werden ausgezahlt, die Datscha wurde gelassen, billig sind Grundnahrungsmittel, der Rubel ist stabil, die Außenhandelsbilanz stimmt, die Kirche wird geschont, selbst die Minsker Grünanlagen sind gepflegt. Lukaschenko selbst praktiziert eine Politik, die gekennzeichnet ist durch Kampf gegen die Ost-Erweiterung der Nato, durch Skepsis gegen Polen und die Baltischen Staaten und durch nützliche Beziehungen zu Russland. Die Schandtaten Lukaschenkos hielten sich in Grenzen, er, Scholl-Latour kenne schlimmere.

"In Minsk ist der absurde ‚Drang nach Osten’, dem sich nicht nur die Atlantische Allianz, sondern auch die als Trabant Amerikas agierende Europäische Union auf Kosten Russlands verschrieben hat, auf die ideologische Beharrungskraft eines Diktators gestoßen, der allen Versuchen der westlichen ‚Völkergemeinschaft’, sein Regime ... den Regeln einer demokratischen ‚Zivilgesellschaft’ anzupassen, mit listiger Brutalität widersteht."

Wie in Weißrussland hangelt sich Scholl-Latour auch in den nun folgenden Russland-Kapiteln wesentlich an den Auskünften offizieller Gesprächspartner, ihm zugeordneter Begleiter oder politischer Prominenz weiter, auch wenn deren Name bereits verblasst ist.

Der zweite Teil führt nach Asien: China im Osten, der Islamismus im Süden Russlands. Schon vorher war Tadschikistan mit Grenzen unter anderem zu Afghanistan, aber auch zu Russland, behandelt worden. Hatte Scholl-Latour in der Hauptstadt Duschanbe den Aufbruch in eine islamische Republik miterlebt, so sieht er Jahre später Tadschikistan zwar selbständig, aber wieder fest in der Hand russlandfixierte Kader.

Ähnliche Erfahrungen muss er im innerrussischen Tatarstan, in Baschkortostan sowie in einigen kaukasischen Republiken machen. Die gläubigen Mohammedaner haben sich dort überall arrangiert, sofern es, nach den nicht wirkungslosen sowjetischen Jahrzehnten, überhaupt zu einem nennenswerten Aufmucken gekommen war. Aber so schnell steigt ein Scholl-Latour nicht von seinem Expertenhochsitz. Beispielsweise schreibt er über Tatarstan.

"Der Verdacht kommt dennoch auf, dass die Masse der Tataren, die gegenüber ihren russischen Mitbürgern plötzlich ein gewisses Überlegenheitsgefühl an den Tag legen, der Gewissheit oder Illusion anhängen, die Zeit arbeite für sie."

Was bedeutet "Verdacht", was ist ein "gewisses Überlegenheitsgefühl", wie groß ist denn eine "Masse der Tataren"?
Vollends unseriös sind dann Spekulationen, wie die, dass Kasachstan dank neu erreichten Wohlstands usurpatorische Gelüste auf russische Gebiete entwickeln könnte. Weil doch, wie ihm jemand sagt, auch Asien irgendwann einmal ein organisches Zusammenwachsen anstrebe.
Und Tschetschenien ?

"Aus Tschetschenien dringen beängstigende Töne. Notfalls, so vernimmt man in Grosny, würden speziell geschulte Kommandos den gefährdeten Landsleuten und Glaubensbrüdern in fernen Provinzen zu Hilfe kommen."

So lassen sich Gespenster beschwören, kaum aber der Zangengriff, die Einkreisung Russlands belegen.

Bleibt, zum Schluss, die Volksrepublik China. Auf den vielen Seiten, die er dem aufstrebenden Land widmet, kann Scholl-Latour bei verantwortlichen Politikern verschiedenster Ebene keine chinesischen Animositäten gegenüber dem benachbarten Russland feststellen. China sei auf russisches Öl und russisches Gas, auf sibirische Rohstoffe angewiesen und greife praktisch schon heute auf viel brachliegendes technisches Know-how der Russen zurück. Mehr noch mit dem gemeinsamen Manöver, "Frieden 2005", hatten Peking und Moskau im vergangenen Jahr auf eine gegen China gerichtete Grossmäuligkeit des amerikanischen Präsidenten reagiert. Natürlich nur eine Übung im Kampf gegen den Terrorismus.

Letzten Endes revoziert Scholl-Latour zumindest das, was sein Verlag ihm in die Ankündigung des Buches geschrieben hat. Russland im Zangengriff? Vielleicht hätte ein Fragezeichen dahinter gehört. Als Behauptung hat das etwas von einer Mogelpackung, zumal eine Fülle persönlicher Erinnerungen vom Thema ablenken und allenfalls Eitelkeit und Wichtigtuerei geschuldet sind.

Ganz zum Schluss, die interessanteste Beobachtung, auf die man in dem Buche stößt, wer immer sie zuerst gemacht hat, Scholl-Latour führt sie an. Irgendwie gehört sie zum eigentlichen Thema.

"Gewissen Statistiken zufolge sind bereits vierzig Prozent der europäischen Bevölkerung von Russisch Fernost und der arktischen Nordregion verschwunden. Nicht der demographische Druck, sondern das zunehmende Vakuum im Innern dürfte der Russischen Föderation jenseits des Baikal-Sees eines Tages zum Verhängnis werden."

Peter Scholl-Latour: Rußland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam
Propyläen Verlag, Berlin 2006