"Einfach nur verzweifelt und selbstdestruktiv"

Rainer M. Holm-Hadulla im Gespräch mit Dieter Kassel · 01.07.2011
Jim Morrison bewegte sich zwischen schöpferischer Erhebung und melancholischer Verzweiflung, sagt Kreativitätsforscher Rainer M. Holm-Hadulla. Letztlich sei er am Erfolg und der medialen Inszenierung gescheitert.
Dieter Kassel: Ungefähr 100.000 Menschen besuchen jedes Jahr das Grab von Jim Morrison auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Und an diesem Wochenende werden es mit Sicherheit mehr Menschen sein als an allen anderen Tagen, denn der kommende Sonntag ist der 40. Todestag des Frontmanns der Gruppe "The Doors". Nur 27 Jahre wurde Jim Morrison, und weil sein Leichnam nie obduziert wurde und die offizielle Todesursache der französischen Polizei einfach Herzversagen lautet, gibt es diverse Verschwörungstheorien rund um sein frühes Ende. Das alleine allerdings dürfte wohl nicht der Grund sein für die bis heute anhaltende Morrison-Mania.

Rainer M. Holm-Hadulla ist einer von Deutschlands führenden Kreativitätsforschern, er ist Professor an der Universität Heidelberg. Er hat mehrere Bücher geschrieben über das Thema Kreativität und in seinem letzten Buch "Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung", da hat er Jim Morrison ein ganzes Kapitel gewidmet. Schönen guten Tag, Professor Holm-Hadulla.

Rainer Holm-Hadulla: Guten Tag!

Kassel: Wenn Sie ihm ein ganzes Kapitel widmen und ihn, glaube ich, auch jenseits Ihrer beruflichen Tätigkeit lieben, dann können Sie mir das sicherlich erklären: Warum sind selbst Menschen, die noch nicht mal auf der Welt waren, als er starb, bis heute große Fans von Jim Morrison?

Holm-Hadulla: Nun, ich glaube, Jim Morrison eignet sich zum Mythos. Zum Mythos, weil er einerseits einer Zeitströmung Ausdruck verliehen hat, und weil er ein ganz altes Thema des Menschseins inszeniert, nämlich das Thema von Kreativität zwischen schöpferischer Erhebung und melancholischer Verzweiflung, und sehr früh sehen Sie in allen Morrison-Texten oder fast allen Texten, wie er seiner Verzweiflung, seiner Melancholie Ausdruck gibt, und er knüpft damit an an ein ganz altes Thema. In der griechischen Philosophie finden Sie den Satz: Alle Großen sind Melancholiker, manche sogar so sehr, dass sie krank werden. Und er hat in der Frühphase tatsächlich mit seiner Kreativität seine melancholischen Verstimmungen ein Stück weit beherrscht, bearbeitet, auch interessante, hochinteressante Gedichte geschrieben – er hat sich ja weniger als Musiker denn als Dichter verstanden –, und dann ist er mit seinem Erfolg und der medialen Inszenierung gescheitert, insofern er nicht mehr geschrieben hat, sondern sich nur noch als Ikone inszeniert, und das hat dazu geführt, dass er doch auf eine sehr brutale Weise zugrunde gegangen ist. Sie wissen, er hat sich mit Alkohol und Drogen schon systematisch umgebracht und hatte letztendlich einen sehr produktiven Sommer. Das war der Sommer 65. 66 kam dann die erste CD und von da fing schon ein Niedergang an mit heftigem Alkohol, mit übermäßigen Drogen und dann auch Exzessen auf der Bühne, die nicht mehr poetisch waren, sondern einfach nur verzweifelt und selbstdestruktiv.

Kassel: Gehen wir vielleicht noch weiter zurück. Sie widmen in ihrem Kapitel über Jim Morrison auch relativ viele Seiten seiner Jugend, auch seiner frühen Jugend. Wir wissen, Sie beschreiben das auch noch mal, dass er eigentlich mit allen nahen Familienmitgliedern Probleme hatte. Es gab ein gestörtes Verhältnis zum Vater, zur Mutter, auch zum Bruder – und wenn ich Sie richtig verstanden habe, werten Sie diese Probleme auch als einen der Antriebe seiner Kreativität.

Holm-Hadulla: Auf alle Fälle! Wir sind kreativ nicht nur aus der Suche nach Lust und Freude, sondern natürlich auch zur Bewältigung des Leidens. Zumindest alle großen Kreativen von Mozart über Picasso zu Goethe sagen das, wie sie aus dem Leiden heraus schaffend sind. Bei Jim Morrison war es so, dass bei seiner Geburt der Vater zum Flugtraining abkommandiert war und dann gleich in den Koreakrieg ging, und die Familie von vornherein sehr von Ängsten geprägt war oder geprägt sein musste.

Der Vater spielte dann später eine große Rolle im Beginn des Vietnamkriegs. Er war einer der höchsten Militärs als Admiral 64 im Golf von Tonkin, diese Scharmützel, die dann zum Vietnamkrieg geführt haben. Also, eine sehr frühe Verunsicherung, die Jim Morrison immer selbst verarbeitet hat, und zwar in einem Song, "Dawn’s Highway", wo er beschreibt, wie er mit den Eltern einen Highway entlangfährt, und sie geraten in einen Sturm, es gibt Blitz, es donnert, und dann sehen sie verblutende Indianer auf der Straße liegen, und er sagt, dass diese Geister, die er damals gesehen hat, in sein Seelenleben eingedrungen sind und er sie nie wieder loswerden konnte. Das ist aber mehr ein Symbol für Erfahrungen von Schrecknissen und Verzweiflungen, die er dann durch Dichtung bewältigt hat. Allerdings nicht genügend, um stabil zu bleiben.

Er hat letztendlich dann diese Grenzüberschreitung, durch die er sich retten wollte, "Break On Through To The Other Side!", hat er letztendlich den Boden unter den Füßen verloren. Er war damit natürlich auch ein Mythos seiner Zeit, das war die Zeit in Deutschland – traue keinem über 30! –, wo man eine ganz tiefe Spaltung weltweit zwischen den Generationen hatte. Also, das ist nicht nur die individuelle Lebensgeschichte von Jim Morrison, sondern das war die Zeit der Auflehnung gegen die Väter, die "generational gap," und er …

Kassel: Aber ist nicht auch – Entschuldigung! – aber ist nicht auch diese Idee, wenn ich das mal stark und unwissenschaftlich vereinfachen darf – schwierige Jugend, viele Konflikte, nur wer wirklich leidet, kann wirklich kreativ sein –, ist das nicht auch so ein Rock’n’Roll- und Pop-Klischee? Ich meine, im Umkehrschluss kann man doch sicherlich nicht sagen, dass Musiker, die nicht viel Leid erlitten haben in ihrer Jugend, automatisch nicht kreativ sind.

Holm-Hadulla: Nein, das kann man nicht sagen, aber wenn Sie sehen, Goethe hat seinen "Werther" nach einer tiefen Liebesenttäuschung geschrieben, und Sie finden da übrigens interessante Parallelen auch, dieses Motiv der Grenzüberschreitung. Es gibt manchmal Passagen im "Werther", die auch hätte Morrison schreiben können vice versa – nur der Unterschied ist, dass Goethe nicht "Werther" war, sondern "Werther" geschrieben hat. Und Jim Morrison hat seine Leidenserfahrung zunehmend weniger in Dichtung und in Musik transformiert, sondern er hat sie inszeniert, er hat sie gelebt. Und ich glaube nicht, dass das Leiden der Schlüssel zur Kreativität ist, aber es ist immer ein Moment, die Transformation des Leidens und der Verzweiflung. Das glaube ich schon!

Kassel: Wir reden in Deutschlandradio Kultur gerade mit Rainer M. Holm-Hadulla, Kreativitätsforscher, und ich möchte trotzdem bei dieser Frage – was ist, wenn das Leid nicht da ist? – mal bleiben. Sie haben auch ein Beispiel dafür in ihrem eigenen Buch: Mick Jagger, der zwar rebellisch auf der Bühne war, aber offenbar nicht rebellisch im eigenen Elternhaus, zumindest nicht über eine gewisse Grenze hinaus. Er hatte einen Vater, der war Sportlehrer, glaube ich, mit dem hat er sich stets gut verstanden, auch als der Ruhm dann kam, es die "Stones" schon gab – dass er diese Festigung hatte, anders als Jim Morrison, ist das der Grund, warum Mick Jagger immer noch lebt, und Jim Morrison nicht mehr?

Holm-Hadulla: Auf alle Fälle! Ich glaube, Kreativität findet statt immer in einem Wechselspiel von Struktur und Dynamik, Stabilität und Labilität. Und eine Labilisierung ist notwendig, um zu den kreativen Quellen zu kommen – aber sie muss auch immer wieder eine Form finden. Und dazu ist Stabilität und Struktur notwendig.

Mick Jagger ist ein exzellentes Beispiel, der ja auch in seinen Balladen "Love In Vain", "You Can’t Always Get What You Want", "You Can’t Get No Satisfaction", letztendlich Leidenserfahrungen besingt. Aber sie werden eben auch dichterisch und musikalisch transformiert. Und Mick Jagger war immer sehr stabil und hat auch sehr viel Disziplin gehabt. Und gerade, wenn man in sehr labilisierende Bereiche geht, braucht man Disziplin und klare, feste Strukturen, und Jim Morrison hat sich dieser Strukturen vollkommen beraubt. Er hat ja die Kontakte zu seiner Herkunft, auch zu den Geschwistern, vollkommen abgebrochen und hatte tatsächlich so einen Alternativentwurf, der gar keine Verbindung mehr hatte mit seiner Geschichte, und deswegen ist er so fragil geworden und konnte letztendlich auch seine Stimmungen dann in der Spätphase nur mit Alkohol und Drogen manipulieren, weil er eben diesen Boden verloren hat, den Mick Jagger immer hatte. Und gerade durch die Disziplin und auch die Achtung auf körperliche Gesundheit zum Beispiel, solche Dinge.

Kassel: Nun ist ja diese Kombination aus Ruhm und auf der Bühne und hinter der Bühne durchdrehen und Drogen nehmen nichts Neues. Nehmen wir mal zwei aktuelle Fälle: Pete Doherty ist berühmt dafür, obwohl der sich in letzter Zeit ein bisschen am Riemen gerissen hat, Amy Winehouse wiederum nicht, die hatte ja erst neulich wieder Ausfälle, hat eine Tournee abgesagt. Wenn so was heute passiert – nehmen wir Amy Winehouse –, ist das was Ähnliches, nur eine Nummer kleiner, oder ist das inzwischen nur noch Medieninszenierung?

Holm-Hadulla: Nein, ich glaube, das ist was ganz Ähnliches. Auch die Stars, die medial inszeniert werden – sie inszenieren sich ja nicht nur selbst, sondern sie werden ja inszeniert und sind da auch einem Druck und einer Verführung ausgesetzt –, haben ihr individuelles Leid. Ich glaube nicht, dass das oberflächliche Medieninszenierungen sind, sondern Ausdruck einer tiefen Suche, die aber durch die Inszenierung abgebrochen wird.

Also, ich bin ganz überzeugt: Wenn Jim Morrison nicht diese mediale Inszenierung gehabt hätte, sondern weiter geschrieben hätte, hätten wir wunderbare Songs von ihm bekommen, wunderbare Texte. Wenn er also mehr – sagen wir mal – Leidenserfahrung hätte auch bewusst genutzt und sich nicht hedonistisch in so eine imaginäre, narzisstische Welt hinein gespielt, wäre aus ihm möglicherweise ein sehr großer Dichter geworden.

Kassel: Sagt Professor Rainer Holm-Hadulla. Er lehrt an der Universität Heidelberg, ist vor allem Kreativitätsforscher, hat mehrere Bücher zum Thema geschrieben. Das letzte heißt "Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung", und in diesem Buch auch ein ausführliches Kapitel, neben anderen Sachen natürlich, über Jim Morrison. Das Buch ist erschienen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Professor Holm-Hadulla, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen einen besinnlichen Sonntag übermorgen!

Holm-Hadulla: Vielen Dank Ihnen!
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