Einer, der sich alles merken kann

Der 24-jährige Ukrainer Ljubko Deresch schreibt mit "Intent! Oder die Spiegel des Todes" einen politischen Roman. Hauptfigur Petro verliebt sich, pflegt seine im Sterben liegende Großmutter und hat ein unglaubliches Gedächtnis.
Wer würde nicht gerne einmal – zumindest vorübergehend – über Superkräfte verfügen. Übermenschliches zu vollbringen, und einmal nicht immer nur Menschliches. Eines der ältesten Themen der Literatur überhaupt.

Von Achilles bis Supermann oder Matrix sind die vielfältigen Kommandos Spezialkräfte nicht nur Selbstzweck, sondern auch immer Fluidum übersinnlicher Erkenntnis. Der 25-jährige ukrainische Autor Ljubko Deresch, der seinen ersten Roman "Kult" im zarten Alter von 16 Jahren geschrieben und bereits kaum 20 in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp veröffentlichte, greift es mit einer literarischen Überzeugung und konstruktiven Verve auf, das es eine Freude ist - und vor allem weit jenseits naiver, juveniler und größenwahnsinniger Reprise aus Effektgründen.

Mit elf Jahren bemerkt Petro Pjatoschkin, dass er über ein außergewöhnliches Gedächtnis verfügt. Er kann sich alles, aber auch alles merken. Die Fähigkeit verstärkt sich immer weiter und beginnt ihn zu quälen. Aber mit der Zeit – und das beschreibt der Autor erstaunlich suggestiv, fast schon sachlich überzeugend – kann Petro diese Begabung "spirituell" nutzen. Nicht nur für Einser in den Klassenarbeiten, sondern später auch, oh Wunder, für Reisen in andere Zeiten und Räume...

Anvertrauen kann er sich kaum jemanden, denn man hielte ihn für verrückt. Seine große Liebe, eine kanadische Künstlerin, verlässt ihn, weil sie ihn bei seinen geistigen Höhenflügen doch nicht so ganz folgen will.

Kurz: Petro ist Mystiker reinsten Wassers und erscheint in einer durchsäkularisierten Welt als buntes, als buntestes Huhn. Man darf ruhig an die feuilletonistisch erklärte "Wiederkehr des Religiösen" denken, wenn man dazunimmt, dass die Literatur der Moderne (binsenweisheitmäßig) aus kaum einer anderen Dialektik ihre stärksten Energien zog. Kaum einer erinnert sich daran, dass der ähnlich überbegabte junge Beckett, sein Debüt mit Meditation, Erleuchtung und unio mystica nicht nur garnierte, sondern sozusagen strukturierte.

Und an dessen Erstling "Murphy" ist auch der einflussreichste Resonanzraum, in dem sich – neben dem Werk des Psychedelikers und Bewusstseinsphilosophen Carlos Castañeda – der Roman entfaltet, auch sprachlich in der schönen, vielfarbigen Übersetzung von Maria Weissenböck.

Es geht um das, was Petro "Reliefzeit" nennt und was die Mystiker aller Zeiten mit "Eins und Alles" andeuteten. Aber Deresch rührt keinen New-Age-Brei, sondern setzt literarisch um, was etwa der tibetische Buddhismus behauptet: Dass Meditation zu absonderlichen Fähigkeiten führen kann – auf die es letztlich aber im "Erleuchtungsprozess" überhaupt nicht ankommt.

Das ist alles in einer Rezension äußerst schwierig zu erklären, und dem Leser sei wärmstens empfohlen, sich ein Bild davon zu machen, wie intimste Erfahrung zu einer durch und durch unpeinlichen metaphysischen Erzählung werden, die für einen Jungspund wie Deresch kaum glaublich ist und selber eine erklecklich "übermenschliche" Leistung darstellt.

Nach der enttäuschten Liebe pflegt der Held seine uralte Großmutter bis zum Tod, wechselt auf rigorose Art seine Identität und wird – natürlich Künstler. Denn in die Kunst hat sich die über-rationale Erfahrung seit jeher – oft nicht ohne Zwang - zurückgezogen und ein Erfahrungsreservoir durch die Zeiten geschaffen.

Ljubko Deresch ist eines jener Wunderkinder, deren quasi rabaukige Begabung in den ersten Büchern stärker ist, als die Geduld zur Ausformung. Und genau das macht den anarcho-mystischen Charme dieser außerordentlich lebendigen Literatur aus. Für Abgeklärteres möge Ljubko Deresch, der möglicherweise Früherleuchtete, noch viel, viel Zeit haben.

Rezensiert von Marius Meller

Ljubko Deresch: Intent! Oder Die Spiegel des Todes
Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
318 Seiten, 12 Euro.